63 Jahre Altersunterschied: der 27-jährige Alon Bindes und der 90 Jahre alte Garry Fabian bei ihrem Zusammentreffen in der Stiftung Geißstraße Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Ein ungewöhnliches Zusammentreffen: Der Holocaust-Überlebende Gary Fabian und Alon Bindes von der jüdischen Studierendenunion, beides gebürtige Stuttgarter, haben sich über Judentum, Antisemitismus und ihre Einstellung zum Leben ausgetauscht – und viele Schnittmengen gefunden.

Sie haben sich noch nie gesehen und sie trennen 63 Lebensjahre. Dennoch besteht eine tiefe Verbindung: zwischen Garry Fabian (90), dem Stuttgarter Holocaust-Überlebenden, der nach dem Krieg nach Australien auswanderte, und Alon Bindes (27), dem aus Stuttgart stammenden Präsidenten der Jüdischen Studierendenunion Württemberg. Michael Kienzle von der Stiftung Geißstraße hat die beiden für einen Abend in der Geißstraße 7 zusammengebracht, um mit ihnen vor interessiertem Publikum über Judentum und Antisemitismus zu sprechen.

Erfahrungen verbinden über Generationen hinweg

Es wird ein Dialog, der in Erinnerung bleibt. Fabian und Bindes sind sich von Anfang an zugewandt. Ihr Jüdischsein und die Erfahrungen, die sich darin knüpfen, verbinden über die Generationen hinweg. Gute Erfahrungen, die mit jüdischen Traditionen und dem besonderen Stellenwert von Gemeinschaft zu tun haben. Aber auch bittere Erfahrungen.

Alon Bindes berichtet aus seinem jungen Leben. Wie für viele andere Juden brach für ihn, „der in Stuttgart ganz normal aufgewachsen ist“ mit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober, „eine Welt zusammen“. Und sie liegt immer noch in Trümmern. „Bei dem, was uns hier nachgeworfen wird, läuft es einem kalt den Rücken runter“, sagt Bindes: „Wir werden verfolgt, nicht vom Staat, der uns heute hilft, aber von gesellschaftlichen Gruppen.“ Viele Juden würden sich fragen: „Haben wir noch eine Zukunft hier?“ Alon Bindes hat diese Frage für sich beantwortet: Er bleibt. Er will sich nicht unterkriegen lassen und erhebt seine Stimme.

Verständnis über Generationen hinweg: der Holocaust-Überlebende Garry Fabian mit Alon Bindes von der Jüdischen Studierendenunion und Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Garry Fabian, der mit seinen Eltern das KZ Theresienstadt überlebte, bestärkt ihn in dieser Entschlossenheit. „Wir leben in einer schweren Zeit“, sagt er auf Deutsch. Gerade jetzt dürfe man sich nicht verstecken, sondern müsse „den Glauben und die Freiheit verteidigen“. Für ihn lag die Tragödie der Juden in Nazi-Deutschland darin, „dass viele dachten, der Unsinn mit Hitler geht nach ein paar Monaten vorbei“.

Das Leben hat ihn schmerzlich gelehrt: „Nichts geht von alleine vorbei“. Vor allem nicht der Antisemitismus. Deshalb ist er davon überzeugt: „Wir Juden müssen proaktiv sein weltweit zusammenhalten“ – von Australien bis Deutschland. Doch nicht nur Juden seien in dieser Situation gefragt: „Jeder kann eine wichtige Rolle spielen.“

Das ist vor Bindes „blanker Antisemitismus“

Alon Bindes nimmt das auf: „Es liegt an uns, ob wir uns mit einer Situation abfinden oder sie verändern, ob wir uns für unser Dasein entschuldigen oder für das eintreten, was uns zusteht“, sagt er und ergänzt: „Wir müssen zeigen, dass wir das sind und selbstbewusst sein.“

Bindes, der Wirtschaftswissenschaftler ist, wehrt sich dagegen, für das Vorgehen der israelischen Regierung in Haftung genommen zu werden – nur weil er Jude ist. Für ihn ist das „blanker Antisemitismus“. Antisemiten suchten sich immer das aus, „was gerade aktuell ist.“

Man könne dieses Muster durch die verschiedenen Zeiten hindurch beobachten. Garry Fabian nickt und zitiert einen hintersinnigen Satz: „Juden und Radfahrer sind an allem schuld!“ Erstaunen: „Wieso Radfahrer?“ Gegenfrage: „Wieso Juden?“ Damit ist viel gesagt. Judentum und Schuld werden von Antisemiten oft als Begriffspaar in einem Atemzug genannt oder gedacht. Dagegen wehren sich Fabian und Bindes entschieden.

Ihre Haltung zu Israel? Alon Bindes steht zum jüdischen Staat. Und das uneingeschränkt, „weil es der einzige Staat auf der Welt ist, in dem man sicher sein kann, dass er die Juden schützt. Deshalb ist es wichtig, dass man Israel schützt“. An Garry Fabian gewandt, sagt er lächelnd: „Hitler hätte es gehasst, dass es einen Staat Israel gibt und wir hier miteinander sprechen.“

Dem 90-Jährigen begegnet er mit Hochachtung. „Gab es etwas im KZ Theresienstadt, das ihnen Kraft gegeben hat?“, fragt er Fabian. Seine Antwort: „Man darf die Hoffnung nicht verlieren und muss in die Zukunft schauen.“

„Ich habe gewonnen. Ich bin noch da“

Diese Haltung zieht sich durch sein Leben. 2004 reiste Garry Fabian als Teil des Projekts „Zeichen der Erinnerung“ nach Theresienstadt – 62 Jahre nach seiner Deportation. Ein eindrückliches Erlebnis, das er mit der in Stuttgart geborenen Inge Auerbacher, die den Holocaust ebenfalls überlebt hat, und anderen Reisebegleitern teilte. Darüber gibt es einen Film von Joachim Auch („Stuttgart – Theresienstadt, einfache Fahrt. Erinnerung an die Juden-Deportation“), der am Donnerstagabend gezeigt wurde. Darin sagt Fabian: „Ich habe gewonnen. Ich bin noch da. Sie haben mich nicht zerstört“ – wenngleich der Preis hoch war.

Alon Bindes fühlt sich davon angesprochen. Von einem starken Trotzdem. „Das ist es vermutlich auch, was wir aneinander auch so sympathisch finden“, sagt er hinterher: „Es ist dieselbe Perspektive, dass wir etwas verändern können in unserem Leben und in unserer Gesellschaft.“ Er habe es als Ehre empfunden, Garry Fabian zu treffen. „Seine Person ist eine Inspiration nicht aufzugeben, ungeachtet der Herausforderungen.“

Garry Fabian am Eingang seines Geburtshauses in der Wagenburgstraße 90. Foto: Veronika Kienzle

Mit der Eröffnung der Jospeh-Süß-Oppenheimer-Erinnerungsstätte tags darauf endete das üppige Besuchsprogramm von Garry Fabian in Stuttgart. Es hatte ihn zu Schülern, Studenten, in die Kindertransporte-Ausstellung in der Württembergischen Landesbibliothek und zu seinem Geburtshaus in der Wagenburgstraße 90 geführt. Mit Tochter, Schwiegersohn und Enkel reist er am Samstag weiter nach Paris und Prag – und noch einmal nach Theresienstadt.