Die Nationalelf ist dabei, ihre gesamte Identität zu verspielen. Die Erklärungen von Hansi Flick verfangen nicht mehr, aber Sportdirektor Rudi Völler hält fest zum Bundestrainer.
Es ist der Charme der Widersprüche, der eine Stadt wie Warschau ziemlich aufregend macht. Wo vor dem Länderspiel zwischen Polen und Deutschland (1:0) noch Menschen in rot-weißen Trikots das Erscheinungsbild zwischen modernen Hochhäusern und sozialistischen Monumentalbauten prägten, rollte die polnische Hauptstadt am Tag danach den Regenbogenteppich für Schwule und Lesben aus. Rund um den Kulturpalast, großräumig von der Polizei bewacht, entfaltete sich ein kunterbuntes Treiben, als sich die deutsche Nationalmannschaft bereits auf der Rückreise nach Frankfurt befand.
Ein Jahr vor der Heim-EM schrillen die Alarmglocken
Es ist nicht lange her, da hat dieses Team viel Energie dafür verwendet, sich für die Belange dieser Community einzusetzen. Doch Regenbogenbinden werden nicht mehr getragen, weil eine wichtige Lehre der vermasselten Wüstenweltmeisterschaft in Katar lautete, mit einem schwarz-rot-goldenen Stückchen Stoff deutlich zu machen, sich wieder vorrangig um Fußball zu kümmern. Aber auch das klappt nicht wirklich. Die Auswahl des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) hat inzwischen gesellschaftspolitisch keine Haltung und sportlich keine Bedeutung mehr. Selbst im Verband spricht kaum einer mehr von der Weltspitze, weil sie viel zu weit weg ist.
Ein Jahr vor der Heim-EM, die eigentlich der Nation wieder Zusammenhalt vermitteln soll, schrillen die Alarmglocken, denn die Bindungskraft scheint auf dem Tiefpunkt. Als Aushängeschild wird die Mannschaft schon gar nicht mehr wahrgenommen. Gerade mal 5,92 Millionen Menschen hatten gegen Polen bei der ARD noch eingeschaltet.
Völler: „Natürlich wird Hansi Flick Trainer bleiben. Er steht nicht zur Debatte.“
Inzwischen hat sich so viel Düsternis über die DFB-Auswahl gelegt, dass sich Sportdirektor Rudi Völler auf dem Campus in Frankfurt berufen sah, seinen angezählten Bundestrainer Hansi Flick durch ein leidenschaftliches Plädoyer zu verteidigen. „Er ist ein absoluter Toptrainer, der sich mit seinem Trainerteam jeden Tag Gedanken macht, wie wir nächstes Jahr eine gute Europameisterschaft spielen können. Der Plan ist da. Es wird noch ein bisschen probiert, und wir haben relativ viele Spiele nicht gewonnen, aber bei allem Respekt haben die Polen nur zweimal aufs Tor geschossen“, sagte der 63-Jährige. Völler versuchte einerseits die Experimente zu verteidigen, andererseits den Ergebnisdruck zu erhöhen.
Zugleich war sein Wort zum Sonntag mit einer Jobgarantie verbunden. Selbst bei einer weiteren Niederlage gegen Kolumbien am Dienstag (20.45 Uhr/RTL) hat Flick keine Entlassung zu befürchten: „Natürlich wird Hansi Flick Trainer bleiben. Er steht nicht zur Debatte.“ Der Treueschwur war abgesprochen mit dem in Warschau noch kommentarlos hinter dem Reporterpulk vorbeimarschierten DFB-Präsidenten Bernd Neuendorf und Liga-Aufsichtsratschef Hans-Joachim Watzke. Dem Verband fehlen zudem das Geld und die Alternative für eine Neubesetzung.
Aktuell spielt die deutsche Elf ohne richtiges Gerüst
Offenkundig befindet sich Flick in der Falle seines Vorgängers Joachim Löw, dem am Ende das Gespür für Stimmungen, Personal und Taktik verloren ging. Der 58-Jährige flüchtete sich am Freitagabend in Warschau wieder in Phrasen und Floskeln: „Wir haben ausreichend Zeit, um die Mannschaft vorzubereiten. Ich bin sicher, dass sie eine sehr, sehr gute EM spielen kann.“
Der Ist-Zustand umfasst allerdings elementare Mängel in allen Mannschaftsteilen; und auf die Rückkehr eines Thomas Müller und Manuel Neuer zu hoffen, die weder bei der letzten WM noch EM wirklich eine Hilfe waren, könnte sich zum fatalen Irrtum ausweiten. Der eine ist nächsten Sommer 34, der andere 38. Aktuell spielt die deutsche Elf ohne richtiges Gerüst. Direktspiel kommt kaum zur Aufführung, Automatismen sind nicht hinterlegt und Standardsituationen beinahe wieder ein Ärgernis.
Rüdiger hadert: „Die haben eine Chance – und treffen.“
Würde bald ein Fußball-Unwort des Jahres gewählt, hätte der von Flick stets bemühte „Prozess“ beste Chancen auf die Ernennung. Gegen limitierte Polen passte wiederholt die Balance nicht. „Wir waren auf Fehlervermeidung und Kontrolle aus. Wir wollten nicht zu viel riskieren“, gab Kapitän Joshua Kimmich zu, dafür habe man speziell in der ersten Hälfte „zu behäbig, zu langsam“ gespielt. Am Ende häufte der Verlierer zwar 76 Prozent Ballbesitz und 26:2 Torschüsse an, aber dem Sieger genügte ein Kopfballtor von Jakub Kiwior (31. Minute) – und eine Weltklasseleistung von Tormann Wojciech Szczesny.
„Die haben eine Chance – und treffen. Wir brauchen halt leider etwas mehr“, haderte Verteidiger Antonio Rüdiger. Für Rückkehrer Robin Gosens ist die Lage sogar „todernst“, wie er etwas zu martialisch formulierte – man müsse endlich wieder „Resultate“ generieren.
Außer Mitleid ruft die Nationalelf kaum noch Gefühlsregungen hervor
In dieser Saison sind nur Siege gegen Oman (1:0), Costa Rica (4:2) und Peru (2:0) gelungen. Die Ergebnis- und Schaffenskrise passt nicht zum Anspruch dieser Fußballnation, deren Verzwergung Flick nicht richtig wahrhaben wollte, als er aus Warschau ausrief: „Es gibt Phasen, die dann so verlaufen. Aber wir werden da rauskommen. Ich bin absolut von unserem Weg überzeugt.“
Den Abzweig auf die Erfolgsspur kann nur bei der nächsten Zusammenkunft mit den Partien gegen Japan (9. September) und Frankreich (12. September) niemand garantieren. Zuvor an diesem Dienstag gegen Kolumbien sei es „kein Freundschaftsspiel“, verdeutlichte Völler. Flick spürte selbst den Druck: „Wir müssen fighten und gewinnen, das ist unser Auftrag.“ Der Verband trommelt seit Tagen auf seinen Kanälen für den Ticketverkauf, aber außer Mitleid ruft die Nationalelf kaum noch Gefühlsregungen hervor, weil sie schon lange nur noch graues Mittelmaß darstellt. Dabei ist die Welt doch selbst in Warschau heutzutage viel bunter.