Weil sie keinen Schreibtisch haben, improvisieren die Kinder. Foto: Ines Rudel

Matthias S., seine Frau, Kinder und seine Ex-Frau sind mithilfe der Deutschen Botschaft aus dem Gaza-Streifen entkommen. Seither leben sie in einer Obdachlosenunterkunft in der Region. Die Mütter streiten sich, die Kinder brauchen sich. Und jetzt?

Matthias S. wird den 29. Februar 2024 niemals vergessen. In einem für 100 Dollar geliehenen Auto hetzte er Richtung Grenze. Der Skoda war heillos überfüllt. Seine fünf Kinder, seine Mutter, seine Partnerin und seine Ex-Frau, die er „nicht in der Hölle“ habe lassen können, quetschten sich auf den Sitzen und hinten zusammen. Für Gepäck war kein Platz. Viel besaßen sie eh nicht mehr seit ihrer Flucht aus dem Norden des Gazastreifens, wo er ein großes Haus und Land besessen habe, in ein Zeltlager im Süden. Es seien nur wenige Kilometer gewesen bis Rafah, dem einzigen Grenzübergang nach Ägypten. Aber die Strecke kam ihm endlos vor. Die Kinder hätten bei jeder Detonation geschrien.

„Meine Kinder sind traumatisiert“, sagt Matthias S. Sie hätten zu viele Tote gesehen. Felina, die älteste, erzählt, dass sie damals wie ihre Geschwister barfuß die Grenze überquert habe. Sie hatte nur noch das, was sie am Leib trug. Dann wedelt die 16-Jährige abwehrend mit den Händen. Sie setzt sich aufs Sofa. Ihre Augen werden feucht. Mehr geht nicht. Sie kann nicht über das Erlebte in Gaza sprechen.

Der Junge verkriecht sich unter dem Bett, als er den Besuch hört

Felina ist nicht der Name, der in ihrem Pass steht. Matthias S. hat darum gebeten, zum Schutz seiner Familie bis auf seinen alle Vornamen zu ändern. Die hier stehenden sind von ihm gewählt. Die größten Sorgen habe ihm sein jüngster Sohn gemacht. Abraham sei regelrecht verstummt wegen der traumatischen Erlebnisse. Es gehe dem Siebenjährigen zwar nun besser. Die Schule hier in Deutschland tue ihm gut. Aber die Angst hat ihn noch nicht verlassen. Wenn er zuhause eine fremde Stimme hört, verkriecht er sich immer noch unter das Bett des Vaters.

Seit bald einem Jahr leben die acht in der Unterkunft. Foto: Ines Rudel/Ines Rudel

Matthias S. hat wie seine drei Söhne und zwei Töchter einen deutschen Pass. Die Mütter der Kinder sind offiziell staatenlos und haben über den Familiennachzug eine Aufenthaltsgenehmigung. Sie leben nun bald ein Jahr in einer Unterkunft für Wohnungslose in Leinfelden-Echterdingen auf drei Zimmern zusammen. Die Familie ist eine von aktuell zwölf Familien, die die Stadt Leinfelden-Echterdingen nach eigenen Angaben in Wohnungen zur Beseitigung der Obdachlosigkeit polizeilich eingewiesen hat. Sie kamen in ein Haus, das ursprünglich nicht als Wohnhaus gebaut wurde.

Anfangs lebten die Frauen und Kinder hier allein. Die Deutsche Botschaft hatte sie an der Grenze in Ägypten in Empfang genommen, für einige Tage in einem Hotel untergebracht und dann nach Frankfurt am Main ausgeflogen. Matthias S. war die Flucht erst im zweiten Anlauf gelungen. Er war, wie Dokumente belegen, vor dem Ausbruch des Kriegs Mitarbeiter des Hilfswerks UNRWA: Als „Technical Instructor“ war er in der Bildungsarbeit an Schulen im Einsatz.

Den Familienvater ließ man zunächst nicht an der Grenze passieren

Weil sich einige Mitarbeiter des UNRWA am Massaker des 7. Oktober beteiligt haben sollen, durften Angehörige des Hilfswerks damals nicht ausreisen. Auch ihn habe man deshalb anders als die Frauen und Kinder nicht über die Grenze gelassen, berichtet der Familienvater. Er konnte sich mit geliehenem Geld quasi freikaufen. Als ihn die Botschaft nach zwei Monaten erneut kontaktiert habe, um auch ihn nach Deutschland zu evakuieren, sei er schon in Sicherheit gewesen. Seine Mutter (sie hat keine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland) musste er in Ägypten zurücklassen, als er der Familie nachfolgte. Es bedeutete für ihn die Rückkehr in das Land, in dem er einst sein Abitur gemacht, Computeringenieurwesen studiert und seine ersten Berufserfahrungen im Bereich Robotik gesammelt hatte. 20 Jahre waren vergangen, seit er Deutschland 2004 verlassen hatte, um im Ausland zu arbeiten: für die Vereinten Nationen sei er unter anderem im Kongo, im Südsudan und in Tansania im Einsatz gewesen. Und schließlich, seit 2007, im Gaza-Streifen, wo er seine Wurzeln hat.

Das sei einmal sein Haus gewesen, so Matthias S. Foto: Privat

Matthias S. lehnt sich in dem Bürostuhl zurück, auf dem er sitzt. Den Stuhl hätten die Kinder auf der Straße gefunden. Er ist der einzige, auf dem er es einigermaßen aushält. Während er spricht, fährt er sich immer wieder über seinen schmerzenden Rücken. Er habe sich eine Kriegsverletzung zugezogen, als er nach einer Bombendetonation von einer Druckwelle erfasst und weggeschleudert worden sei.

Zweimal die Woche geht er zur Physiotherapie, doch die Nächte machten jeden Fortschritt zunichte. Direkt neben S. steht das Bett, auf dem er versucht zu schlafen. Es ist wohl nicht für den Dauergebrauch vorgesehen: Die Matratze ist nur wenige Zentimeter dünn und liegt nicht auf einem Lattenrost, sondern auf einem Metallgitter.

Die Kinder haben keinen Schreibtisch

Auch die Kinder und Frauen schlafen auf solchen dünnen Matten – aus Platzgründen nächtigen sie fast alle auf dem Boden. „Es handelt sich um kein Mietverhältnis“, schreibt ein Sprecher der Stadt Leinfelden-Echterdingen auf Anfrage. „Hier müssen gegebenenfalls Einschränkungen in Kauf genommen werden“. Die „Mindestanforderung“ bei der polizeilichen Einweisung in eine Unterkunft sei, eine „menschenwürdige Unterkunft zur Verfügung zu stellen“. Doch was heißt das eigentlich genau? Menschenwürdig sei „eine ganztägige Unterkunft, die der untergebrachten Person Schutz vor Wind und Wetter bietet, also trocken und warm ist. Als Ausstattung sind Bett, Tisch, Stuhl und Schrank (Spind) für persönliche Dinge vorhanden. Daneben gibt es WC und eine Koch- und Waschgelegenheit.“

Matthias S. ist verzweifelt. Dass sie hier zu acht auf engem Raum untergebracht sind, ist nun schon länger ein Problem. „Es ist zu eng“, sagt er. Die Kinder verstehen sich bestens, bei den Frauen ist es anders. Ihnen tut nicht gut, dass sie sich nicht aus dem Weg gehen können. Seine Ex-Frau schlafe mit ihren zwei Kindern in einem Zimmer, daneben seine Partnerin Rosa mit ihren drei Kindern. Rosa leide besonders unter der Situation. Sie ist schwanger. Auch an diesem Tag geht es der Palästinenserin nicht gut. Sie liegt meistens geschwächt in ihrem Zimmer in der Ecke auf dem Boden, hält sich den Bauch. Anfangs ist ihr Sohn Jakob mit im Raum. Er kniet vor einem niedrigen Tischchen, löst dort Matheaufgaben.

Für ihre Hausaufgaben verteilen sich die Kinder. Weil sie keinen Schreibtisch haben, improvisieren sie. Felina sitzt in der Küche am Esstisch, der neunjährige Adam hockt vor einem Plastiktritt im Zimmer der Ex-Frau, die zehnjährige Regina lernt abwechselnd mit einem Bruder an einem umfunktionierten niedrigen Regal im Wohnzimmer, in dem auch der Vater schläft. Neben ihr steht sein Laptop auf einem Campingtisch. Matthias S. nimmt an einer KI-Fortbildung teil. Den Campingtisch hat er gekauft, die übrigen Möbel sind von der Stadt gestellt oder vom Sperrmüll. Solange sie untergebracht sind, hat die Familie keinen Anspruch auf eine Erstausstattung vom Jobcenter.

Die Ex-Frau versucht, so viel wie möglich draußen zu sein

Sie seien für so vieles dankbar, betont Matthias S. Die Schule habe den Kindern beispielsweise die Schul-und Sportsachen organisiert. Aber die Wohnsituation belastet die Familie. Einmal sei ein Streit zwischen den Frauen derart eskaliert, dass Rosa mit einem Nervenzusammenbruch in die Notaufnahme kam. Sie schlief zwei Nächte im Hotel, kehrte notgedrungen zurück. Sandra, die Ältere, versuche zwar, so viel wie möglich draußen zu sein, aber das sei auf die Dauer kein Zustand.

Während die Kinder nach den Hausaufgaben ausgelassen herumspringen, halten sich ihre Mütter an diesem Nachmittag nur fürs Foto kurz gemeinsam in einem Zimmer auf. Die Stadt Leinfelden-Echterdingen soll als Lösung vorgeschlagen haben, dass Sandra mit ihren Kindern in ein Frauenhaus zieht. Doch das hat die Familie abgelehnt. Häusliche Gewalt sei nicht das Problem, meint Matthias S., der betont, dass es wichtig sei, dass er sich um alle Kinder kümmern könne, er helfe ihnen zum Beispiel bei den Hausaufgaben, gehe mit ihnen zum Arzt.

Was ist, wenn im Sommer das Baby kommt?

Er weiß, dass es seine Wohnungssuche nicht leichter macht, aber die Kinder sollten möglichst nicht auseinandergerissen werden. Sie bräuchten sich gegenseitig, ist der Vater überzeugt. Wegen der traumatischen Erfahrungen, die sie machten, sei das besonders wichtig, dass sie ihren Halt nicht verlören. „Sie sind Geschwister“, sagt Matthias S. Ihnen sei egal, wer welche Mutter habe. Matthias S. träumt von zwei Wohnungen, nah beieinander, idealerweise im gleichen Haus. Dann wären die Kinder beieinander, aber die Frauen könnten sich aus dem Weg gehen.

Doch bisher hat er niemanden gefunden, der ihnen eine Chance geben will. Die Stadt Leinfelden-Echterdingen äußert sich nicht zu dem konkreten Fall. Nur soviel: Die Art der Unterbringung solle „nur vorübergehend erfolgen“. Die Mitwirkung der Betroffenen sei erforderlich, die sich auf dem freien Wohnungsmarkt und „gegebenenfalls auch andernorts“ umsehen müssten, schreibt der Sprecher. Und was ist, wenn das Baby im Sommer kommt und sie dann zu neunt in der Unterkunft sind? „Das wäre eine Katastrophe“, meint Matthias S.

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