Die Rekordzahl an Baustellen im Schienennetz führt bei den Güterbahnen zu massiven Problemen. Foto: dpa/Armin Weigel

Droht durch Verspätungen und Zugausfälle mehr Güterverkehr auf der Straße statt auf der Schiene?

Schnell, effizient, zuverlässig – so wirbt die bundeseigene DB Cargo AG für ihre Frachtzüge und grünen Logistikketten, auch zur besten TV-Sendezeit vor der Tagesschau. „Der Güterverkehr wird wachsen. Wir haben jetzt die Chance, dieses Wachstum auf die Schiene zu holen“, betont Sigrid Nikutta, Chefin der größten Güterbahn Europas. Weniger Staus, umweltfreundliche Transporte, das könne DB Cargo, verspricht die resolute Managerin auf der DB-Homepage.

Abgesagte Transporte, Ärger mit den Kunden

Kunden aus Industrie und Handel erleben seit Monaten indes allzu häufig das Gegenteil mit dem Staatsunternehmen: endlose Verspätungen, wochenlang stehende Züge, abgesagte Transporte – kurz: unzuverlässige Lieferungen und massiven Ärger. „Wir sind in einer Situation, die ist fast schon unbeschreiblich“, räumt der zuständige Produktionsvorstand Ralf Kloß in einem internen Video an DB-Mitarbeiter ein, das die Wirtschaftswoche veröffentlichte und seither in der Branche für Aufsehen sorgt.

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Offen gesteht der DB-Manager, er habe so etwas in vierzig Jahren bei der Güterbahn noch nicht erlebt. Es gebe Baumaßnahmen und Störungen, die kaum noch beherrschbar seien. Danach dankt Kloß den Mitarbeitern, dass sie sich gegen das drohende Chaos und „den kompletten GAU auf dem Produktionssystem stemmen“. Zumal die bisherigen Baumaßnahmen „nur der Beginn“ seien.

Die Äußerungen sind brisant, denn öffentlich ist vom Marktführer im deutschen Schienengüterverkehr selten bis nie Kritik an den teils desaströsen Zuständen im Netz zu hören. Kein Wunder: Die allzu lange von der Politik vernachlässigte Infrastruktur gehört dem Bund und wird unter dem Dach der staatlichen Deutschen Bahn AG von der Konzernschwester DB Netz AG verwaltet, die nun mit Rekordinvestitionen endlich die Modernisierung anpackt.

Bauaktivitäten bestimmen die Fahrpläne

Die privaten Güterbahnen, die seit der Bahnreform 1994 rund 57 Prozent des Marktes eroberten, haben weniger Berührungsängste. „Wir können derzeit in Ansätzen beobachten, was passiert, wenn die Bauaktivitäten den Fahrplan bestimmen“, sagt Peter Westenberger, Geschäftsführer des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen (NEE), das zahlreiche Frachtbahnen außerhalb des DB-Konzerns vertritt. „Unsere Mitglieder kämpfen um jede Fahrt und gegen den drohenden Kollaps an“, beschreibt Westenberger die schwierige Lage. Es gehe „hier nicht allein um das Überleben einzelner Unternehmen, sondern den Ruf der gesamten Branche, dem gerade massiv geschadet wird“. Denn schlechte Performance und ein noch schlechteres öffentliches Bild würden von den Kunden mit der Abwanderung auf die Straße bestraft, befürchtet der Branchenexperte.

An Beispielen fehlt es nicht. So können im wichtigen Elbe-Korridor via Bad Schandau wegen der Bauarbeiten in Deutschland und Tschechien laut NEE maximal 50 Prozent der Züge abgewickelt werden. Manche Züge stünden mangels Kapazitäten im Netz bis zu drei Wochen still, bis sie über die Grenze fahren können.

Getreidelieferungen durch Europa sind statt zwölf bis zu 35 Tage unterwegs

Alternativ bleibe die Umleitung über Österreich zu erheblichen Mehrkosten, doch auch an den Grenzübergängen bei Passau und nach Salzburg gebe es wegen Bauarbeiten erhebliche Einschränkungen. „Wirtschaftlich können solche Alternativen nicht mehr gefahren werden“, kritisiert das NEE. Getreidelieferungen aus Ungarn gen Rotterdam seien per Bahn derzeit mindestens 16 Tage pro Umlauf unterwegs, manche sogar 30 bis 35 Tage. Üblich wären zehn bis zwölf Tage.

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Zudem nervt die Bürokratie. Wenn Umleitungen benötigt werden, müsse das bei jeder Regionalgesellschaft von DB Netz einzeln beantragt werden. Braucht ein Güterzug andere Trassen für die Fahrt von Tschechien nach Hamburg, sind für die drei Netzregionen Südost, Ost und Nord getrennte Anträge zu stellen. Eine zentrale Leitstelle fehle. Und kommt die Zustimmung nicht sofort, hat man das nächste Problem. Denn angehaltene Güterzüge fallen in der Priorität bei DB Netz hinter Züge zurück, die laut Fahrplan pünktlich sind. „Wenn ein Zug also einmal abgestellt ist, verlängert sich seine Stehzeit häufig noch weiter“, so der Verband.

Private Güterbahnen fürchten den Verlust von Kunden

Im Ergebnis könnte künftig noch mehr Fracht über die Straße als über die Schiene rollen, warnt Westenberger. Das schließt auch DB-Chef Richard Lutz während der extremen Bauphasen der nächsten Jahre nicht aus. Doch die privaten Güterbahnen befürchten, dass Verlader, die auf den Lkw umsteigen, weil die Bahn wegen Baustellen nicht liefern kann, am Ende dauerhaft für die Schiene verloren sind. Dann bliebe das hehre Ziel der Politik, den Marktanteil der Bahnen am Güterverkehr von derzeit mageren 18 auf 25 Prozent bis 2030 zu steigern, ein bloßer Wunschtraum.

Die DB Netz müsse daher „besser gestern als heute dafür sorgen, dass die Bauaktivitäten nicht nur besser koordiniert werden, sondern auch kundenfreundlich erfolgen“, verlangt Westenberger. Baustellen müssten aufeinander abgestimmt und zusätzliches Personal in den Leitstellen eingesetzt werden. „Die Güterbahnen dürfen nicht Leidtragende des verschleppten Ausbaus der DB sein“, warnt der Verbandschef. Verkehrswende und Klimaschutz seien „so nicht zu machen“.