Der internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen findet am Samstag, 25. November statt. Der Esslinger Verein Wildwasser beschäftigt sich damit täglich. Um die Arbeit auszuweiten, sammelt die Weihnachtsspendenaktion der Eßlinger Zeitung Geld.
Am besten wäre es, wenn es die Arbeit von Claudia Weist-Brockhaus und Andrea Haygis bald nicht mehr bräuchte, da sind sich die beiden Frauen einig. Doch ihr Blick in die Zukunft ist ernüchternd. „Wir haben derzeit so viele Anfragen, dass wir immer wieder Menschen, die Hilfe suchen, abweisen müssen“, sagt Weist-Brockhaus, die als systemische Therapeutin arbeitet. Die beiden Frauen sind Teil des Esslinger Vereins Wildwasser und beraten Betroffene von sexualisierter Gewalt, denen aktuell etwas passiert ist, aber auch jene, deren Erfahrungen weit zurückliegen,. Darunter seien auch schwersttraumatisierte Erwachsene, die in ihrer Kindheit oder Jugend dauerhaft Missbrauch erfahren hätten. Die Eßlinger Zeitung sammelt im Rahmen der Weihnachtssendenaktion Geld für die Beratungsstelle.
Beratung – unabhängig vom Geschlecht
Laut Zahlen des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben ist jede dritte Frau in Deutschland einmal oder mehrmals in ihrem Leben Opfer sexueller und oder körperlicher Gewalt. Im Kreis Esslingen eskalierten im vergangenen Jahr Konflikte in Paarbeziehungen so weit, dass die Polizei 549-mal wegen häuslicher Gewalt ausrücken und über 200 Wohnungsverweise aussprechen musste.
„Wir bieten den Erwachsenen einen geschützten Raum. Das hilft ihnen zu verstehen, ich bin nicht allein, und bringt mehr Stabilität ins Leben“, erklärt Haygis, die die Geschäftsführerin des Vereins ist. Vor allem zur Weihnachtszeit sei es wichtig, Betroffenen ein Gefühl des Nicht-Alleineseins zu vermitteln. „Von überall bekommen wir gezeigt: Weihnachten ist die besinnliche Zeit, die Zeit einer intakten und glücklichen Familie“, erzählt Weist-Brockhaus, „doch für von Gewalt betroffene Personen können das zwei, drei sehr belastende Wochen sein.“
Im vergangenen Jahr wurden 106 Erwachsene beim Verein Wildwasser beraten. Dabei waren 30 Personen 21 bis 26 Jahre alt und 69 Personen älter als 27 – auch neun Männer suchten Hilfe bei der Beratungsstelle. „Der Verein wurde mit einem feministischen Ansatz gegründet. Unser Angebot, auch Männer anzusprechen, war nicht von Anfang der Plan“, blickt Haygis auf die Vergangenheit des Vereins. Doch Wildwasser sei weiter gewachsen und habe sich an die Gesellschaft angepasst. „Wir wollen Menschen helfen, die sexualisierte Gewalt erleben mussten – unabhängig vom Geschlecht“, erklärt Haygis den heutigen Leitsatz. Niemanden auszuschließen, sei das wichtigste. Um wirklich alle mit einzubeziehen, brauche es aber mehr Geld, sagt Haygis: „Wir brauchen dringend größere Räume, die auch barrierefrei sind, denn Frauen mit einer Behinderung werden besonders häufig Opfer von sexualisierter Gewalt.“ Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend habe jede dritte bis vierte Frau mit Behinderung in ihrer Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erfahren.
Struktur gibt Stabilität
Während das Zusammenkommen an Weihnachten für die einen Stunden der Geborgenheit bedeutet, kann es für von Gewalt betroffene Personen eine Konfrontation mit Tätern oder Verwandten, die die Tat nicht wahrhaben wollen, bedeuten. „Wir erleben, dass Frauen, deren Gewalterfahrungen 20 Jahre oder noch länger zurückliegen und die sich ihren Familien anvertraut haben, von ihren Angehörigen verstoßen werden“, gibt Haygis Einblicke in die Beratungsstunden, die vor den Weihnachtsfeiertagen stattfinden. Nicht selten gehe es dabei darum, den Schein einer perfekten Familienidylle zu wahren. „Dass die Menschen, die man schon so lange kennt und lieb hat, auch gleichzeitig zu Tätern werden können, wollen viele nicht wahrhaben“, sagt Haygis. Das Verstoßen der Betroffenen und einsame Feiertage könnten dann die Folge sein. Was gegen die schmerzende Zeit helfen kann, sei von Person zu Person unterschiedlich. „In der Regel fragen wir unsere Klientinnen ganz konkret, was sie an den Weihnachtstagen vorhaben“, sagt Weist-Brockhaus. Es gehe darum, den Betroffenen Stabilität zu vermitteln und Pläne zu entwickeln, um die dunklen Tagen etwas heller zu machen. Routinen und ein strukturierter Alltag können die nötigen Stützen sein. Ein Gefühl des Gesehenwerdens zu vermitteln, liegt den beiden Frauen am Herzen.
Das Anerkennen und Thematisieren von sexualisierter Gewalt sei aber auch eine Generationenfrage, merkt Weist-Brockhaus an. „Das Thema ist in der Gesellschaft noch immer sehr schambehaftet“, sagt die Therapeutin, „aber wir merken auch, dass sich das Bewusstsein allmählich ändert.“ Während in den 60ern oder 70ern sexualisierte Gewalt noch weggelächelt oder weggewunken wurde, seien heute Aufklärungsarbeit und Hilfsangebote dafür verantwortlich, dass Betroffene den mutigen Schritt wagen und von ihren Erlebnissen berichten. Auch die Tatsache, dass die Schuld immer beim Täter liegt, ziehe zunehmend in die Köpfe der Opfer ein, so die Therapeutin.
Aktionen und Spenden gegen (sexualisierte) Gewalt
Veranstaltungen
Anlässlich des Internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen veranstaltet der Verein Frauen helfen Frauen Esslingen in Kooperation mit dem Referat für Chancengleichheit der Stadt Esslingen und dem Landkreis verschiedene Aktionen. Am 24. November findet im Kulturzentrum Komma in Esslingen eine Lesung mit anschließender Party statt. Jacinta Nandi liest aus „50 Ways to leave your Ehemann“ und Nadia Shehade aus „Anti-Girlboss“. Im Anschluss legen DJ Iamboth und Melary Stardust auf. Los geht es um 19 Uhr, Tickets gibt an der Abendkasse für zehn Euro. Unter anderem in Esslingen auf dem Bahnhofsplatz und in Kirchheim sowie in Ostfildern, jeweils auf dem Wochenmarkt, wird es am 25. November einen Infostand geben. Begleitet wird dieser von der Aktion „Rote Schuhe“, die sinnbildlich für die von ihren (Ex-)Partnern getöteten Frauen stehen.
Geldspende
Die Weihnachtsspendenaktion der Eßlinger Zeitung und des Vereins „Gemeinsam helfen“ sammelt Spenden, die Menschen im Kreis Esslingen zugute kommen.
Weitere Informationen zur Spendenaktion gibt es unter: https://www.esslinger-zeitung.de/weihnachtsspendenaktion