Fast ein Jahr lang saß der Journalist Deniz Yücel in türkischer Untersuchungshaft – wegen seiner kritischen Berichte über die Erdogan-Regierung warfen ihm vor, deutscher Spion und Mitglied der kurdischen PKK zu sein. In der Druckhalle der Eßlinger Zeitung liest Yücel anlässlich der LesART aus seinem Buch „Agentterrorist“.
EsslingenFast ein ganzes Jahr lang musste er wegen angeblicher „Terrorpropaganda“ in türkischer Untersuchungshaft zubringen, und viele haben in dieser Zeit mit Deniz Yücel gehofft und gebangt. Und als er im Februar 2018 aus dem Gefängnis entlassen wurde, blieb die schmerzliche Gewissheit, dass noch immer Zehntausende politische Häftlinge in der Türkei hinter Gittern sitzen, weil sie es wagen, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und ihre Meinung zu sagen oder zu publizieren. Es ist schwer vorstellbar, was es für einen Menschen bedeutet, so lange Zeit einer Maschinerie ausgeliefert zu sein, die der Willkür Tür und Tor öffnet. Und es gehört wenig Fantasie dazu, sich bewusst zu machen, dass ein politischer Gefangener wie Yücel das Erlebte und Erlittene nach der Entlassung nicht einfach hinter sich zu lassen vermag. Der deutsch-türkische Journalist, der nie ein Blatt vor den Mund genommen hat, hat seine Erfahrungen in türkischer Haft, seine Ängste und Demütigungen in einem Buch unter dem Titel „Agentterrorist“ (Verlag Kiepenheuer & Witsch, 22 Euro) verarbeitet. Bei der LesART präsentiert Deniz Yücel sein Buch vor einer Kulisse, die einem Journalisten angemessen ist: in der Druckhalle der Eßlinger Zeitung.
Als Deniz Yücel am 27. Februar 2017 in der Türkei festgenommen wurde, warf man ihm vor, Mitglied der kurdischen PKK und deutscher Spion zu sein. Er selbst sagt: „Das war eine kriminelle Vereinigung, die mich gefangen genommen hat. Das war auf Geheiß von Tayyip Erdogan. Ich wurde festgehalten als Geisel. Ich wurde der Bundesregierung angeboten zum Tausch für Militärs, Ex-Militärs, die im Verdacht standen, am Putschversuch beteiligt gewesen zu sein oder für andere Sachen.“ Monatelang saß Yücel im berüchtigten Gefängnis Silivri in Einzelhaft. Und er erinnert sich: „Dieses Gefühl und diese Angst, dass man hier vergessen wird von aller Welt und da verrottet, das war schon sehr stark. Und ich hatte ja nichts verbrochen.“ Doch es gab viele, die ihn nicht vergessen haben und unermüdlich für seine Freilassung kämpften. Eine Welle der Solidarität begann, der politische und gesellschaftliche Druck blieb ungebrochen. Denn diejenigen, die unter dem Motto „Free Deniz“ ihre Stimme erhoben, wussten nur zu gut, dass der „Fall Yücel“ kein einzelner war, sondern alles andere als untypisch für ein politisches System, das mehr auf Einschüchterung und Unterdrückung setzt als auf offenen Diskurs. Deshalb ließ sich Yücel, den Erdogan selbst als „Agentterrorist“ bezeichnet hatte, nicht auf eine geräuschlose Entlassung ein, sondern redet und schreibt Klartext, weil er weiß, dass sein Fall für viele steht – und dass er viel aussagt über das politische Klima in der Türkei. Das macht sein Buch auch für jene so bedeutsam, die noch als politische Gefangene in türkischer Haft sitzen – und für ein Land, in dem viele trotz aller Repression und Verfolgung für demokratische Verhältnisse kämpfen.