Bahngleise als Biotope, in denen Wildbienen nisten? Die Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) macht das mit den tief liegenden Magerwiesengleisen möglich, die auch bei der Verlängerung der U 6 zum Flughafen verlegt werden sollen. Nicht nur ökologisch, auch wirtschaftlich bringt das Modell Vorteile.
Kreis EsslingenNeue Stadtbahngleise sollen in Stuttgart und Umgebung eine Bienenweide werden. Schon jetzt summt und brummt es im Frühjahr und im Sommer auf dem Gleis der U 12 am Wallgraben in Stuttgart-Vaihingen. Die rund drei Kilometer lange Neubaustrecke der U 6 zum Flughafen und zur Landesmesse wird nun ebenfalls als „tiefliegendes Magerwiesengleis“ gebaut. „Das wird bei den Stuttgarter Straßenbahnen künftig Standard“, sagt der Chefplaner der SSB, Volker Christiani. Für das innovative Konzept „Lebensraum Stuttgarter Gleise“ haben er und sein Team im März 2017 in Freiburg vom baden-württembergischen Verkehrsminister Winfried Hermann den Innovationspreis für den öffentlichen Personennahverkehr bekommen.
Auf den Fildern ist die Verlängerung der Stadtbahn zum Flughafen wegen des Flächenverbrauchs umstritten. Dass vier Hektar Filderboden versiegelt werden, erntet nicht nur bei den betroffenen Landwirten Kritik. Umso mehr liegt Christiani und seinen Planern der „flächenschonende Ökoausgleich“ am Herzen. Zwischen den Schienen ist es möglich, Blüten wie Storchenschnabel, Löwenzahn, Wolfsmilch oder Schafkraut sprießen zu lassen. Der neue Gleistyp bringt nach Christianis Worten acht Ökopunkte pro Quadratmeter – dagegen komme das früher verbreitete Zierrasengleiskörper nur auf drei Ökopunkte. Fettwiesengleise, die in jüngerer Zeit bei der SSB Standard waren, bringen fünf Ökopunkte. Die sehen zwar auch im Sommer sattgrün aus. Die Artenvielfalt ist aber sehr begrenzt. Christiani sieht alle Stadtplaner in der Pflicht, umzudenken: „Das Bienensterben ist in aller Munde, da müssen wir in den Städten etwas tun“, ist der Chefplaner überzeugt.
Weniger Mahden im Jahr
Die Grasnarbe liegt bei der Variante mit Magerrasen auf der Höhe des Schienenfußes. „Wir säen eine Gräser- und Kräutermischung, die nicht zu hoch wächst, damit nicht so oft gemäht werden muss“, erläutert Christiani einen weiteren Vorteil. Außerdem sorgten die Gärtner mit einem entsprechenden Substrat dafür, dass die Pflanzen nicht zu hoch sprießen. „Das ist ein großer Vorteil für die Mitarbeiter.“ Denn beim Mähen zwischen den Schienen habe es schon einen tödlichen Unfall mit einer Stadtbahn gegeben. Wenn die Trupps weniger oft ausrücken müssen, spart das auch Kosten.
Beim Magerwiesengleis müssen die Mähtrupps pro Jahr nur noch ein bis zwei Mal ausrücken – bei anderen Varianten standen mindestens zwei, oft sogar drei Mahden im Jahreslauf auf dem Plan. Im Sommer sehe der Magerrasen trocken und dürr aus, sagt Christiani. Ein paar Blüten sprießen auf der Modellstrecke am Wallgraben aber doch, obwohl es in den vergangenen Wochen viel zu wenig geregnet hat. Auf unbewachsenen Stellen sonnen sich Insekten.
Bei tief liegenden Stadtbahngleisen, die zum Beispiel in einen Trog gebaut sind, ist die Magerwiesen-Bepflanzung nicht möglich. Da haben die Planer eine Sedum-Mischung gewählt, wie man sie etwa auf begrünten Dächern findet. Weil die Substrathöhe da nur sechs bis sieben Zentimeter beträgt, geht zwar der eine oder andere Grassamen auf. Die Keime sterben aber nach kurzer Zeit wieder ab, weil die Wurzeln nicht tief genug sprießen können. Daher müssen die Gleise in diesen Abschnitten gar nicht gemäht werden.
„Der Fokus liegt bei unserem neuen Konzept für die Stuttgarter Gleise nicht auf der Optik“, stellt Christiani klar. Dennoch bereichern die blühenden Wiesen aus seiner Sicht den Stadtraum zu allen jahreszeiten. Bergen die Biotope nicht die Gefahr, dass Grashalme oder Blütenstängel mal auf den Schienen landen und die Fahrzeuge in Gefahr bringen? „Die Schienen liegen so hoch, dass das nicht passieren kann“, zerstreut der Chefplaner diese Sorgen.
Ökologische Eingriffe mildern
Der promovierte Verkehrsingenieur hofft, dass durch die Magerrasengleise die Stadtbahn noch mehr Akzeptanz bei den Filderbewohnern findet, die diesen Einschnitt in die Felder verkraften müssen. Die Stadtbahn zum Flughafen und zur Landesmesse ist aus seiner Sicht für den Filderraum, der vom Autoverkehr stark belastet ist und nach Einschätzung vieler Experten vor dem Verkehrskollaps steht, eine riesige Chance. „Gerade Berufspendler brauchen Mobilität mit dem öffentlichen Nahverkehr.“
Dass man die ökologischen Eingriffe durch die Biotope zwischen den Gleisen immerhin etwas mildern könne, sieht der Chefplaner der SSB als ein dickes Plus. Nicht zuletzt werde das Mikroklima im dicht besiedelten Raum durch die Blütenvielfalt günstig beeinflusst. Alle künftigen Neubaustrecken der SSB sollen nach diesem Vorbild begrünt werden.