Angela Merkel (CDU) und Martin Schulz (SPD). Foto: dpa - dpa

Von Sabrina Erben, Greta Gramberg, Maria Krell, Patrick Kuolt und Fabian Schmidt

Esslingen/Berlin - 28 Seiten bilden die Grundlage für die am Freitag beginnenden Koalitionsverhandlungen. 14 Themenfelder haben CDU/CSU und SPD in ihr Sondierungspapier geschrieben. Am Anfang steht das Versprechen, sich "mutige Ziele für die nächsten vier Jahre" zu setzen. Und am Ende die Abmachung, zur Halbzeit zu schauen, ob auch alles wie vereinbart umgesetzt wurde. Wir haben uns durch die 9312 Wörter gearbeitet - den Fokus auf unsere Region gerichtet.

Europa

Europa liegt der Union und der SPD am Herzen. Nicht umsonst beginnt das Sondierungspapier mit diesem Themenkomplex. Das Ziel der Verhandler ist eine „Erneuerung“ und ein „neuer Aufbruch“ der EU. Sie wollen eine umfassende Reform. Signalworte sind gemeinsam, Solidarität, Gerechtigkeit, sozial, Frieden oder Verantwortung. Deutschland ist bereit, mehr Geld für den EU-Haushalt beizusteuern. Ein „Investivhaushalt für die Eurozone“ könnte kommen. Zudem wird Steuerdumping, -betrug und -vermeidung der Kampf angesagt. „Das Kapitel Europa ist sehr gelungen. Man sieht eine klare Ausrichtung hin zu mehr Europa“, sagt Evelyne Gebhardt, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und in ihrer Funktion als Abgeordnete in Brüssel auch für den Kreis Esslingen zuständig: „Für Baden-Württemberg und gerade auch für den Raum Esslingen mit den vielen Arbeitsplätzen in der Industrie ist das Thema offene Grenzen von großer Bedeutung. Nur mit dem klaren Bekenntnis zur EU sind diese Arbeitsplätze gesichert – und damit wird der Wohlstand bewahrt. Diese offenen Grenzen sind also für eine innovative Wirtschaft sowie für die Bürgerinnen und Bürger wichtig.“ Robin Schray, Pressesprecher im baden-württembergischen Ministerium der Justiz und für Europa ergänzt in Bezug auf den künftigen mehrjährigen Finanzrahmen der EU. „In der aktuellen Förderperiode 2014 bis 2020 erhält Baden-Württemberg rund fünf Milliarden Euro. Die Sondierungsergebnisse lassen darauf schließen, dass Deutschland keine wesentliche Änderung der Mittelverteilung anstrebt, was aus baden-württembergischer Sicht zu begrüßen wäre.“

Stellungnahme von Evelyne Gebhardt (SPD), Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und in ihrer Funktion als Abgeordnete in Brüssel auch für den Kreis Esslingen zuständig:

„Das Kapitel Europa ist sehr gelungen. Man sieht eine klare Ausrichtung hin zu mehr Europa, zu einem Europa der Bürgerinnen und Bürger. Im Papier steht, dass wir die demokratischen und rechtsstaatlichen Werte und Prinzipien noch konsequenter durchsetzen wollen. Hier sehe ich die ganz große Schwierigkeit. Wenn die CSU Herrn Orban einlädt, der genau dafür nicht steht, dann sehe ich schwarz in Bezug auf die Wertigkeit solcher Aussagen in dem Papier.

Für Baden-Württemberg und gerade auch für den Raum Esslingen mit den vielen Arbeitsplätzen in der Industrie ist das Thema offene Grenzen von großer Bedeutung. Nur mit dem klaren Bekenntnis zur EU sind diese Arbeitsplätze gesichert – und damit wird der Wohlstand bewahrt. Diese offenen Grenzen sind also für eine innovative Wirtschaft sowie für die Bürgerinnen und Bürger wichtig.“

Stellungnahme von Robin Schray, Pressesprecher Ministerium der Justiz und für Europa Baden-Württemberg:

„Für Baden-Württemberg von großer Bedeutung ist die Positionierung der künftigen Bundesregierung hinsichtlich des künftigen mehrjährigen Finanzrahmens der EU. Davon hängt auch ab, ob und in welcher Höhe die einzelnen Regionen Mittel von der EU erhalten.

In der aktuellen Förderperiode 2014 bis 2020 erhält Baden-Württemberg rund fünf Milliarden Euro, wovon rund 3,5 Milliarden Euro aus der Gemeinsamen Agrarpolitik stammen. Nach der derzeitigen Regionalpolitik der EU ist es auch möglich, wirtschaftlich stärkere Regionen wie Baden-Württemberg zu fördern. Dies sollte aus Sicht des baden-württembergischen Europaministeriums so beibehalten werden.

Die Sondierungsergebnisse lassen darauf schließen, dass Deutschland bei den Beratungen zum mehrjährigen Finanzrahmen keine wesentliche Änderung der Mittelverteilung anstrebt, was aus baden-württembergischer Sicht zu begrüßen wäre.“

Wirtschaft

„Eine starke Wirtschaft bedeutet für uns auch, dass alle gerecht an den Erfolgen beteiligt sind“, schreiben die Sondierer in ihrem Papier. Die Wirtschaft in der Region Stuttgart ist in bester Verfassung. Allerdings beschäftigen die Themen Digitalisierung und Fachkräftemangel die Betriebe. Union und SPD wollen die Wirtschaft zu mehr digitaler Forschung bringen und planen eine steuerliche Förderung für kleine und mittelgroße Unternehmen. Auch Investitionen in die Digitalisierung sollen „durch steuerliche Anreize“ unterstützt werden. Für den Landesverband der Industrie (LVI) mit Sitz in Ostfildern ist das nicht genug: „Obwohl einige wichtige Forderungen der Industrie in die Sondierungen eingeflossen sind, greift das Kapitel insgesamt zu kurz: Es enthält keine Vision für ein digitales Deutschland, kein nachhaltiges Finanzierungskonzept und kein ambitioniertes Arbeitsprogramm“, sagt LVI-Geschäftsführer Wolfgang Wolf unserer Zeitung. „Das für die Digitalisierung so entscheidende Thema IT-Sicherheit fehlt überraschenderweise in diesem Kapitel und wird lediglich im Kapitel Rechtspolitik angeschnitten.

Wichtig ist nun, dass die Parteien zügig eine ganzheitliche Digitalstrategie erarbeiten und konkrete Maßnahmen vorschlagen, wie sie ihre Ziele erreichen wollen.“ Der LVI sagt weiter: Unklar bleibe in dem Sondierungspapier wie weit eine Modernisierung des Kartellrechts reichen soll. Grundsätzlich hat sich der Wettbewerbsrahmen in Deutschland und der EU – auch mit Blick auf Digitale Märkte – bewährt. „Positiv zu bewerten ist das Ziel, die Digitalisierung der Verwaltung voranzutreiben und ein zentrales, einheitliches digitales Portal für Bürger und Unternehmen zu schaffen. Darüber hinaus sollte sich die neue Bundesregierung für die Öffnung von Verwaltungsdaten einsetzen, solange die Veröffentlichung der Informationen im Einzelfall nicht gesetzwidrig ist“, so Wolf. „Auf Grund der Tatsache, dass die Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft eine immer größere Bedeutung gewinnt, ist die neue Bundesregierung auch aufgefordert, ein nationales eHealth-Zielbild zu entwickeln.“

Arbeitsmarkt

Erklärtes Ziel von SPD und Union ist die Vollbeschäftigung. Die Arbeitslosenquote betrug im Kreis Esslingen im Dezember 3,1 Prozent. So wenig wie seit über 20 Jahren nicht. Eine einheitliche Definition von Vollbeschäftigung gibt es übrigens nicht. Aber auf dem Arbeitsmarkt gibt es trotz der positiven Entwicklung noch viel zu tun. Langzeitarbeitslosen sollen laut Sondierungspapier Perspektiven eröffnet werden. An der Maßnahme „Teilhabe am Arbeitsmarkt für alle“ sollen sich 150 000 Menschen beteiligen. Für viele Arbeitgeber ein Knackpunkt: Es soll ein Recht auf befristete Teilzeit eingeführt werden, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Die SPD will auch an der sachgrundlosen Befristung rütteln. Das ist bisher zwar kein Thema in den Sondierungspapieren,

Unternehmen fürchten aber, dass sich das in den anstehenden Koalitionsverhandlungen ändert und warnen vorsorglich: „Der Maschinenbau nutzt die sachgrundlose Befristung, um ähnlich wie bei der Zeitarbeit seinen Personalbestand zyklischen Konjunkturschwankungen schnell und flexibel anzupassen“, sagt Mathias Kammüller, der Vorsitzende Verbands der Südwest-Maschinenbauer VDMA und Chef der Werkzeugmaschinensparte beim Maschinenbauer Trumpf in Ditzingen. Bisher kann der Arbeitsvertrag von Arbeitnehmern ohne Angabe von Gründen – ein Sachgrund wäre beispielweise eine Elternzeitvertretung – befristet werden. Vor allem junge Arbeitnehmer trifft die Befristung am Anfang ihres Berufslebens.

Familie, Frauen und Kinder

Die Sondierer wollen Familien finanziell entlasten und die Kinderbetreuung verbessern. Das Kindergeld soll erhöht, Kinderarmut bekämpft werden. CDU/CSU und SPD sind für einen Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung im Grundschulalter und wollen die Kinderrechte „im Grundgesetz ausdrücklich verankern“. Sie erhöhen das Engagement für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wollen die Hilfsstrukturen bei Gewalt gegen Frauen optimieren. Hierzu ist auch ein Runder Tisch von Bund, Ländern und Kommunen geplant, um beispielsweise ein Investitions- und Sanierungsprogramm für Frauenhäuser aufzulegen. Diesem Vorschlag steht der Verein Frauen helfen Frauen aus Esslingen kritisch gegenüber, „da wir über Jahre hinweg bereits Zahlen, Fakten, Statistiken, Problem- und Bedarfsanalysen geliefert haben“.

Die Vereinsvertreterinnen Erika Kienzler und Sarah Seibold fordern konkrete Maßnahmen: mehr Frauenhausplätze (ein Familienzimmer auf 10000 Einwohner), die verlässlich und gut finanziert sowie barrierefrei sind, und eine schnelle, unbürokratische Hilfe für die Opfer. „Wie von einem Sondierungspapier nicht anders zu erwarten, sind zwar Absichten und Ziele bezüglich unterschiedlicher Punkte der Chancengleichheitspolitik formuliert (Frauen in Führung, Entgelttransparenzgesetz, Ausbau der Hilfestrukturen bei häuslicher Gewalt), jedoch ohne Konkretisierung und Nennung von Haushaltsmitteln“, sagt Barbara Straub, Beauftrage für Chancengleichheit der Stadt Esslingen. Punkte des Papiers, die Esslingen beschäftigen, seien die unzureichende Anzahl von Plätzen im Frauenhaus und die Ressourcen der Frauenberatungsstelle. „Beide sind schon jetzt zu gering. Dabei ist absehbar, dass in naher Zukunft auch durch Krieg-, Gewalt- und Fluchterfahrung traumatisierte Frauen auf Unterstützung und Hilfe angewiesen sein werden“, sagt Straub. Sie freut sich, dass die verfahrensunabhängige Beweissicherung nach Vergewaltigung bundesweit Standard werden soll. „In Esslingen arbeiten Mitglieder des Runden Tisches ‚Häusliche Gewalt’ an der Umsetzung dieses Themas.“

Stellungnahme von Erika Kienzler und Sarah Seibold vom Verein Frauen helfen Frauen:

„Wir begrüßen es natürlich, dass das Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder auch in den Sondierungsgesprächen Platz findet. Im Sondierungspapier wird ein runder Tisch von Bund, Ländern und Kommunen angestrebt. Dem stehen wir kritisch gegenüber, da wir über Jahre hinweg bereits Zahlen, Fakten, Statistiken, Problem- und Bedarfsanalysen geliefert haben an Koordinierungsstellen, Erhebungsinstitute, Netzwerke und an bundes- und landesweite politische Gremien. Auch über unsere Landesarbeitsgemeinschaft und die Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF) (http://www.autonome-frauenhaeuser-zif.de) wurden zahlreiche Daten weitergereicht. Auf diese Daten kann zurückgegriffen werden. Wir fordern daher die konsequente Umsetzung der Istanbul Konvention. Die Frauenhäuser benötigen eine adäquate finanzielle Absicherung, hierzu fordern wir eine Pauschalfinanzierung die von gewaltbetroffenen Frauen und Kindern unbürokratische und schnelle Hilfe garantiert. Eine Finanzierung über die Unterhaltsvorschusskasse sehen wir nicht als Lösung an.

Wir fordern konkret:

  • Im gesamten Bundesgebiet endlich genügend Frauenhausplätze zu schaffen, angelehnt an die Empfehlung der Istanbul-Konvention: ein Familienzimmer (Family Place) auf 10 000 Einwohner*innen (Gesamtbevölkerung).
  • Alle Frauenhäuser barrierefrei zugänglich zu machen.
  • Frauenhäuser nun endlich pauschal, verlässlich und gut zu finanzieren.
  • Den Zugang zu Schutz und adäquater gleichwertiger Unterstützung für alle von Gewalt betroffenen Frauen und ihre Kinder zu gewährleisten: sicher, schnell, unbürokratisch und bedarfsgerecht.

Wünschenswert ist, dass diese Mal konkrete Maßnahmen erfolgen.“

Stellungnahme von Barbara Straub, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Esslingen:

„Ich habe den Text sorgfältig gelesen, aber wie von einem Sondierungspapier nicht anders zu erwarten, sind zwar Absichten und Ziele bezüglich unterschiedlicher Punkte der Chancengleichheitspolitik formuliert (Frauen in Führung, Entgelttransparenzgesetz, Ausbau der Hilfestrukturen bei häuslicher Gewalt), jedoch ohne Konkretisierung und Nennung von Haushaltsmitteln.

Im Papier tauchen Punkte auf, die uns auch in Esslingen beschäftigen. Als Beispiel nenne ich die unzureichende Anzahl von Plätzen im Frauenhaus und die Ressourcen der Frauenberatungsstelle. Beide sind schon jetzt zu gering. Dabei ist absehbar, dass in naher Zukunft auch durch Krieg-, Gewalt- und Fluchterfahrung traumatisierte Frauen auf Unterstützung und Hilfe angewiesen sein werden. Zusätzliche finanzielle Mittel werden nicht nur für Dolmetschertätigkeiten nötig sein.
Meines Erachtens müssten zudem schnell und intensiv gewaltpräventive Angebote gefördert werden.
Gefreut habe ich mich, dass in dem Sondierungspapier die verfahrensunabhängige Beweissicherung nach Vergewaltigung als bundesweit zu wünschender Standard angesprochen wird. In Esslingen arbeiten Mitglieder des Runden Tisches ‚Häusliche Gewalt‘ an der Umsetzung dieses Themas.“

Bildung und Forschung

Bildung, Wissenschaft und Forschung sind „Schlüsselthemen für Deutschlands Zukunft“ heißt es im Sondierungspapier. Deshalb sind die drei Partien auch gern bereit, Geld in die Hand zu nehmen. Eine „Investitionsoffensive für Schulen“ ist geplant, das BAfÖG soll ausgeweitet werden, und bis 2025 sollen mindestens 3,5 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung aufgewendet werden. Ferner streben die möglichen Koalitionäre einen Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung im Grundschulalter an, und sie wollen die berufliche Bildung modernisieren sowie stärken. Für die EZ befasst sich Claudia Bitzer seit Jahren mit der Schulpolitik und für sie wirft der Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung im Grundschulalter Fragen über Fragen auf: „Die Zusage, die Angebote flexibel zu halten, freut die Eltern – und bringt die Kommunen ins Schwitzen. Denn dass Esslingen bereits einen Versorgungsgrad von 50 Prozent aufweisen kann, ist vor allem den Ganztagsgrundschulen zu verdanken. Aber auch in der Kreisstadt gibt es mitunter Wartelisten“, sagt die EZ-Redakteurin und ergänzt: „Was passiert künftig in einer Halbtagsschule wie in Hegensberg-Liebersbronn, wenn die 16-Uhr-Betreuungsgruppe voll ist? Dürfen oder müssen die Eltern dann an eine andere Schule wechseln? Oder muss die Stadt an allen Grundschulen ausreichend Angebote bereithalten?“ Darüber hinaus sieht „biz“ eine Finanzspritze für die Kommunen in Bezug auf die Mammutaufgabe Digitalisierung in Schulen als unumgänglich.

Stellungnahme von Claudia Bitzer, die sich seit Jahren für die Eßlinger Zeitung mit der Schulpolitik befasst:

„Werden die Wanka-Milliarden für die Digitalisierung der Schulen nun doch endlich kommen? Ohne Finanzspritze schaffen die Kommunen diese Mammutaufgabe jedenfalls nicht. Zumal es im schulischen Alltag um mehr als Hard- und Software, WLAN und Glasfasern geht. Irgendeiner muss das alles auch am Laufen halten. Also nur ein Investitionskostenzuschuss oder auch Geld für den Betrieb? Die Zeit drängt. Besonders spannend würde aber der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter. Die Zusage, die Angebote flexibel zu halten, freut die Eltern - und bringt die Kommunen ins Schwitzen. Denn dass Esslingen bereits einen Versorgungsgrad von 50 Prozent aufweisen kann, ist vor allem den Ganztagsgrundschulen zu verdanken. Aber auch in der Kreisstadt gibt es mitunter Wartelisten. Was passiert künftig in einer Halbtagsschule wie in Hegensberg-Liebersbronn, wenn die 16-Uhr-Betreuungsgruppe voll ist? Dürfen oder müssen die Eltern dann an eine andere Schule wechseln? Oder muss die Stadt an allen Grundschulen ausreichend Angebote bereithalten?“

Rente, Gesundheit, Pflege

Der Schutz vor Altersarmut und eine verlässliche Rente sind erklärtes Ziel der Sondierer. Dafür soll das derzeit geltende Rentenniveau von 48 Prozent noch bis 2025 gehalten werden. Für Personen, die mindestens 35 Jahre lang Beiträge gezahlt oder Kinder und Angehörige gepflegt haben, ist eine Grundrente von zehn Prozent oberhalb der Grundsicherung vorgesehen. Über mehr Geld freuen dürften sich auch Arbeitnehmer beim Thema Krankenversicherung: Beiträge sollen künftig paritätisch, also von Beschäftigten und Arbeitgebern in gleichem Maße gezahlt werden. Neben der Rente und Gesundheit widmen sich SPD und Union dem Thema Pflege. Unter dem Stichwort „Sofortprogramm“ listet das Papier Instrumente auf, die dem Pflegenotstand ein Ende setzen und Pflegeberufe attraktiver machen sollen: Etwa mit besserer Personalausstattung, Anreizen und der Durchsetzung von Tarifverträgen.

Steuern

Die Konjunktur brummt. Die Parteien wollen die finanziellen Spielräume – die aufgrund der wirtschaftlichen Lage bestehen – „verantwortlich und sozial ausgewogen“ nutzen. Es soll einen ausgeglichenen Haushaushalt ohne neue Schulden und keine Steuererhöhungen geben. Die SPD forderte einen höheren Spitzensteuersatz – von 42 Prozent auf 45 Prozent –, das ist aber nun kein Thema mehr. Außerdem wurde vereinbart, den Soli „schrittweise abzuschaffen“. In dieser Wahlperiode sollen 90 Prozent der Soli-Zahler ganz entlastet werden.

Innere Sicherheit

Union und SPD wollen einen „Pakt für den Rechtsstaat“. „Wir werden den Rechtsstaat handlungsfähig erhalten.“ Danach sollen bei den Polizisten 15 000 zusätzliche Stellen geschaffen werden: je 7500 im Bund und in den Ländern. Man strebt „eine zeitnahe Umsetzung“ an. Dazu soll es 2000 neue Stellen in der Justiz geben. Ein wichtiges Thema ist die Datensicherheit. Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der Cyberabwehr soll ausgebaut und strukturell neu geordnet werden. Hacker sind oft schneller und vor allem cleverer als Konzerne oder Regierungen. Eine große Aufgabe. Staaten müssen die richtigen Rahmenbedingungen setzen, um das Vertrauen ihrer Bürger in die neuen Technologien zu stärken. Das forderte das Weltwirtschaftsforum in einer Analyse zu Hackerangriffen und Cyberkriminalität: „Cyberrisiken sind die größten Herausforderungen bei der Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelten.

Migration und Integration

180.000 bis 220.000 Flüchtlinge sollen in Zukunft pro Jahr maximal nach Deutschland kommen. Jedenfalls gehen CDU/CSU und SPD davon aus, dass „die Zuwanderungszahlen diese Spanne nicht übersteigen werden“. Das kommt einer Begrenzung gleich. Zudem soll der Familiennachzug auf 1000 Menschen pro Monat limitiert werden, was sich auf dem SPD-Parteitag vom vergangenen Sonntag aber schon wieder anders angehört hat. „Die Verlängerung und die Begrenzung des Familiennachzugs entspricht den kommunalen Forderungen und zeugt von Realismus“, teilt Landrat Heinz Eininger in einer Stellungnahme mit. Er begrüßt auch den Plan, die Migration nach Deutschland zu begrenzen und zu steuern und konstatiert: „Positiv zu bewerten ist die Absicht, nur noch Flüchtlinge mit einer guten Bleibeperspektive auf die Kommunen zu verteilen und das Asylverfahren für Flüchtlinge mit keiner guten Bleibeperspektive in zentralen Einrichtungen durchzuführen.“ Diese sogenannten ANkER-Einrichtungen sollen die Effizienz steigern. Eininger begrüßt „ausdrücklich“ das Bekenntnis zu einer konsequenten Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern, aber „leider bleibt das Sondierungspapier an dieser Stelle unkonkret, welche Maßnahmen zum Abbau der Abschiebehindernisse ergriffen werden sollen.“ Für die, die bleiben, wollen die drei Partien Kommissionen einrichten, die sich mit der Integrationsfähigkeit Deutschlands und den Fluchtursachen in der Welt beschäftigen.

Stellungnahme von Heinz Eininger, Landrat im Landkreis Esslingen:

„Die Erkenntnis der Sondierungspartner, die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft nicht zu überfordern, weist in die richtige Richtung. Mit Blick darauf sind die Anstrengungen zu begrüßen, die Migrationsbewegungen nach Deutschland und Europa zu steuern und auf 180.000 bis 220.000 zu begrenzen. Das Maßnahmenpaket dafür lässt sich allerdings noch nicht abschließend bewerten. Es kommt auf die konkrete Ausgestaltung an, die jetzt in den Koalitionsverhandlungen geklärt werden muss. Gleiches gilt für die Fachkräfteeinwanderung, die jetzt geregelt werden soll. Auch hier kommt es auf die Ausgestaltung im Detail an.

Die Verlängerung und die Begrenzung des Familiennachzugs auf 1.000 Flüchtlinge pro Monat entspricht den kommunalen Forderungen und zeugt von Realismus. Allerdings ist die konkrete Ausgestaltung auch hier noch zu vage, um eine abschließende Beurteilung vornehmen zu können.

Positiv zu bewerten ist die Absicht, nur noch Flüchtlinge mit einer guten Bleibeperspektive auf die Kommunen zu verteilen und das Asylverfahren für Flüchtlinge mit keiner guten Bleibeperspektive in zentralen Einrichtungen (ANkER) durchzuführen.

Das Bekenntnis zu einer konsequenten Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern begrüße ich ausdrücklich. Leider bleibt das Sondierungspapier an dieser Stelle unkonkret, welche Maßnahmen zum Abbau der Abschiebehindernisse ergriffen werden sollen.

Blickt man auf das mit dem Sondierungsprogramm vorgelegte Finanzierungstableau, fällt auf, dass für eine ganze Reihe der kommunalrelevanten Punkte ein konkreter Finanzierungvorschlag fehlt. Die qualitativ größten Finanzierungsrisiken beinhalten die Flüchtlingskosten, für die der Bund einzustehen hat. Zu befürworten ist die Zusage, dass der Bund die Kommunen bei den flüchtlingsbedingten Kosten für die anerkannten Flüchtlinge in der Anschlussunterbringung bis 2021 unterstützt. Die Landkreise und Kommunen erfüllen bei der Integration, besonders aber bei der Unterbringung, Sprachförderung und den Sozialleistungen, eine staatliche Aufgabe.

Über das Sondierungsergebnis zu „Migration und Integration“ hinaus, ist der Landkreis bei einer Vielzahl von Punkten direkt betroffen, z.B. bei der Pflege, der Digitalisierung, der Bildung, dem öffentlichen Nahverkehr und vielem mehr.
Die Sondierungspartner haben sich in ihren Verhandlungen auf ein Finanztableau verständigt, das für die gesamte Legislaturperiode bis 2021 bisher nicht etatisierte Mehrausgaben von 36 Mrd. Euro sowie eine Entlastung der Bürger beim Solidaritätszuschlag von 10 Mrd. Euro vorsieht. Das Ganze ohne neue Schulden.

Den Landkreisen und Kommunen wird versprochen, alle bisherigen kommunalentlastenden Finanzprogramme fortzuführen und anzupassen, so z.B. die Städtebauförderung und Integrationsprogramme. Darauf verlassen wir uns und werden diese Zusage ggf. einfordern."

Wohnungsbau, Mieten usw.

Der Wohnraum ist knapp, die Mieten sind hoch. Dem wollen die drei Parteien entgegenwirken. Es sollen 1,5 Millionen Wohnungen durch finanzielle Anreize entstehen, weit mehr als bisher also. Die mögliche Große Koalition will zudem die Gewinnung von Bauland erleichtern und gegen „unverhältnismäßig steigende Mieten“ vorgehen. Helfen sollen ein modernisierter Mietspiegel und die Evaluation der Mietpreisbremse. „Es ist sehr wichtig, dass wir verhindern, dass der Wohnraum unbezahlbar wird – und daher finde ich die Absprache zur Mietpreisbremse zu nebulös und kann dies auch nicht verstehen“, sagt Udo Casper, Vorsitzender des Deutschen Mieterbundes Esslingen-Göppingen jedoch. „Sie kann, so wie sie jetzt besteht, nicht wirksam werden. Daher hoffen wir, dass hier rasch nachgeschärft wird und man nicht bis zu einer Evaluierung in ein paar Jahren wartet. Man darf diese wertvolle Zeit nicht verstreichen lassen, sondern muss gleich handeln.“ Das Wohngeld wollen Union und Sozialdemokraten zudem anpassen, aber dies müsste laut Casper dynamisiert, also automatisch an die Preisentwicklung angelegt, erfolgen. Positiv sei, dass der Bund für zwei weitere Jahre die Wohnraumförderung unterstützen möchte. „Diese Unterstützung sollte auch noch weiterlaufen, denn wenn die Bundesmittel zur Förderung wegfallen, dann würde es gerade in Baden-Württemberg schlecht aussehen.“

Stellungnahme von Udo Casper, Vorsitzender des Deutschen Mieterbundes Esslingen-Göppingen:

„Grundsätzlich hat alles, was in Berlin entscheiden wird, Auswirkungen auf unseren Kreis. Wobei die Wohnungspolitik und die Verbesserung der Situation eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Land und Stadt ist. Da kommt es auch darauf an, was zum Beispiel die städtische Ebene aus dem Programm des Bundes macht.

Ich sehe beim Sondierungspapier Licht und Schatten und hoffe, dass die Koalitionsergebnisse bei dem einen oder anderen Punkt konkreter und besser werden. Das derzeit größte Problem ist der Wohnungsmangel. Den können wir aber nicht von heute auf morgen abstellen. Daher ist es sehr wichtig, dass wir verhindern, dass der Wohnraum unbezahlbar wird – und daher finde ich die Absprache zur Mietpreisbremse zu nebulös und kann dies auch nicht verstehen. Sie kann, so wie sie jetzt besteht, nicht wirksam werden, und dieses Bewusstsein ist bei allen vorhanden. Daher hoffen wir, dass hier rasch nachgeschärft wird und man nicht bis zu einer Evaluierung in ein paar Jahren wartet. Man darf diese wertvolle Zeit nicht verstreichen lassen, sondern muss gleich handeln.
Positiv ist, dass der Bund für zwei weitere Jahre die Wohnraumförderung unterstützen möchte. Durch die Föderalismusreform wäre dies 2019 ausgelaufen, und daher tut diese Verlängerung gut. Diese Unterstützung sollte auch noch weiterlaufen, denn wenn die Bundesmittel zur Förderung wegfallen, dann würde es gerade in Baden-Württemberg schlecht aussehen. Richtig ist indes die Suche nach mehreren Finanzierungsinstrumenten, man muss aber beispielsweise bei der steuerlichen Förderung konkreter werden. Zudem müsste eine Mietpreisbegrenzung mit dieser Förderung vereinbart sein.
Eine Anpassung des Wohngeldes ist zunächst auch positiv, aber dies müsste dynamisiert, also automatisch an die Preisentwicklung angepasst, erfolgen.

Man muss insgesamt nicht begeistert sein über das Papier, aber es ist auch nicht schlecht. Es fehlen aber noch wichtige Punkte, wie beispielsweise der Kündigungsschutz. Ich hoffe, dass darüber in den Koalitionsgesprächen verhandelt wird.“

Landwirtschaft

Ziel von SPD und Union ist laut Sondierungspapier eine nachhaltige, flächendeckende Landwirtschaft. Durch die unterschiedlichen Bodenbedingungen ergibt sich im Kreis Esslingen eine vielseitige Landwirtschaft mit verschiedenen Schwerpunkten, wie beispielsweise die fruchtbaren Lössböden auf den Fildern. Handschrift der SPD beim Thema Landwirtschaft: Der Einsatz des umstrittenen Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat soll reduziert werden. Vor allem die CSU hatte Glyphosat zuletzt noch vehement verteidigt. Für die einen ist das Herbizid ein nützliches Mittel zur Unkrautbekämpfung, für die anderen ein tödliches Gift, das über die Nahrung in den Körper gelangt. Im Sondierungspapier heißt es, dass die Verwendung beendet werden soll. Allerdings fehlt im Papier der Sondierer ein Zeitplan dafür.

Klima, Energie, Umwelt

Entgegen des bisherigen Eindrucks haben die Sondierungsparteien CDU/CSU und SPD die Klimaziele nicht ad acta gelegt: Sie bekennen sich dazu. Allerdings ist das 40-Prozent Reduktionsziel von CO2 gegenüber 1990 bis zum Jahr 2020 anscheinend nicht mehr zu erreichen – aktuell liegt man bei gut 27 Prozent. Die Lücke soll in der Zeit danach so schnell wie möglich geschlossen werden. „Das Minderungsziel 2030 wollen wir auf jeden Fall erreichen“, heißt es im Papier. Dieses sieht eine Senkung des Kohlendioxidausstoßes um 55 Prozent vor – unter Berücksichtigung von Versorgungssicherheit, Sauberkeit und Wirtschaftlichkeit. Einen Plan zum Gelingen wird eine Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ bis Ende 2018 schmieden müssen, die aus Vertretern von Politik, Wirtschaft, Umweltverbänden, Gewerkschaften und anderen Betroffenen zusammengestellt wird. Der Wandel im Energiesektor soll unter Berücksichtigung der finanziellen Absicherung betroffener Regionen ermöglichen – speziell der schrittweise Kohleausstieg bis zu einem Abschlussdatum wird erwähnt. Ähnlich soll im Bau- und Verkehrssektor vorgegangen werden. Die rechtlich verbindliche Umsetzung wollen die Sondierer 2019 beschließen.

„Veränderungen im Energiesektor bringen notwendiger Weise auch Veränderungen von Arbeitsumständen mit sich. Jegliche Fortentwicklung unserer Gesellschaft und Wirtschaftsweisen hat solche Effekte“, sagt Alexander Peringer, Professor für Landschaftsökologie und Ressourcenschutz an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen. Das könne kein grundsätzliches Totschlagargument für die Umsetzung der Klimaziele sein. „Natürlich ist es so, dass, wenn man das Ziel erreichen will, sich auch etwas in unserer Gesellschaft verändern muss. Sollen solche strukturellen Übergänge weich ablaufen, so braucht es früh klare Ansagen der Politik, damit sich die Menschen in ihren Lebensverhältnissen anpassen können. Wankelmütigkeit und Verzögern verschlimmern hier die Lage der Menschen, die die Lasten zu tragen haben, hinzu kommt ihre Verunsicherung. Verzögern sich richtungsweisende Entscheidungen auf der Suche nach einem optimalen Kompromiss zu lange, so kann dieser auch zu spät kommen. Die Machbarkeit des Klimazieles ist eine Frage des Willens, leider wurde die Umsetzung bislang zu inkonsequent angegangen.

Im Alltag betreffen würde das vor allem unseren Energieverbrauch, wo es viel Einsparpotenzial gibt. In der Regel verbrauchen wir am meisten Energie für Mobilität und Wohnen, insbesondere Heizung. Da muss man bei alten Häusern etwa mit energetischen Sanierungen ran, das ist machbar und hat auch schon Erfolge gezeigt. Ebenso machbar sind Solaranlagen auf den Dächern, hier kann noch mehr passieren. Elektromobilität kann ebenso in vielen Bereichen umgesetzt werden und Entlastung bei den Emissionen bringen, wenn der Strom dafür aus erneuerbaren Energiequellen kommt. Wenig Einschränkungen befürchten müssen wir im Unterhaltungsbereich, also der Benutzung von elektronischen Geräten wie Smartphone, weil ihr Energieverbrauch im Vergleich zur Gebäudeheizung und Mobilität eher gering ist. Hier ist eher das Problem unseres steigenden Konsums, denn die Produktion vieler elektronischer Geräte ist klimabelastend.“

Konkret ist ein Anteil von 65 Prozent erneuerbarer Energien bis 2030 das Ziel. Acht bis zehn Millionen Tonnen CO2-Einsparung soll eine Sonderausschreibung für weitere Windkraft- und Photovoltaikanlagen bringen. Darüber hinaus sollen zum Umweltschutz Programme zum Erhalt von Biodiversität und Artenschutz fortgesetzt werden, ebenso die Endlagersuche für Atom-Müll.

Außen, Entwicklung, Bundeswehr

„Deutsche Außenpolitik ist dem Frieden verpflichtet“, schreiben die Sondierer. Doch dass die Türkei die Kurdenmiliz in Syrien mit deutschen Panzern angreift, provoziert nach Veröffentlichung des Papiers Kritik gegen die Rüstungspolitik der Bundesregierung. In der Vereinbarung sehen SPD und Union vor, die Rüstungsexporte weiter einzuschränken und die Richtlinien zu verschärfen. Eine gemeinsame europäische Rüstungspolitik werde angestrebt. Einen harten Schnitt hat die Bundesregierung bereits vollzogen, was Waffenlieferungen an Beteiligte am Jemen-Krieg angeht: Die Ausfuhren an die umstrittensten Empfänger deutscher Rüstungsgüter sind gestoppt, darunter Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar. In Jemen tobt seit sieben Jahren ein Bürgerkrieg, bei dem längst Interessen anderer Länder eine ebenso große Rolle spielen wie die inländischen Konflikte. „Das ist ja toll“, sagt Marlis Bartkiewitz aus Esslingen zum Rüstungsstop. Die frühere Onkologie-Krankenschwester ist als Rentnerin beim Senior Experten Service (SES) in der Entwicklungshilfe tätig. Vor 8 Jahren war sie im Jemen, um dort in einem Krankenhaus zu helfen. Schon damals sei es ein armes Land gewesen, aber auch ein blühendes mit mehreren UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten, die nun gefährdet sind. „Mein Gott, die brauchen Hilfe“, sagt Bartkiewitz über die humanitäre Katastrophe, die sich auf der arabischen Halbinsel abspielt. Doch diese vor Ort zu leisten, sei in Kriegszeiten nicht möglich.

Die potenziellen Koalitionäre sehen als weiteres Ziel, die sogenannte ODA-Quote, den Anteil der Entwicklungshilfe und zivilen Krisenprävention am Bruttoinlandsprodukt auf 0,7 Prozent zu steigern. Erreicht wurden zuletzt 0,52 Prozent.

Marlis Bartkiewitz mahnt an, nicht einfach Material in Entwicklungsländer zu schicken, sondern das nötige Knowhow – sie selbst reist immer wieder in Länder wie Pakistan, Georgien oder Kamerun, um Krankenschwestern auszubilden. „Man muss in Bildung investieren, da kann nicht genug Geld fließen.“ In Kamerun hat die Helferin über die Jahre festgestellt, wie westliche Einflüsse, die Wirtschaft kaputt machen, Billigkleidung aus dem Ausland den einheimischen Schneider verdrängt, Edelhölzer abgebaut werden, ohne dass vor Ort etwas von den Erlösen hängen bleibt. „Das müsste verboten werden“, sagt sie.

Union und SPD erkennen im Sondierungspapier: Fluchtursachen bekämpfen heiße, sich für Menschenrechte einzusetzen und faire Handelsstrukturen zu etablieren, eine Welt ohne Hunger und Terror zu schaffen. Die Globalisierung müsse gerecht gestaltet werden.

Den Einsatz der Bundeswehr gegen den IS im Nordirak wollen die Regierungsparteien reduzieren. Die Terrororganisation sei weitgehend zurückgedrängt. Dagegen sollen die Kontingente in Afghanistan und Mali heraufgesetzt werden. Die Politiker betonen den Charakter der Bundeswehr als Parlamentsarmee und wollen ihr „die bestmögliche Ausrüstung, Ausbildung und Betreuung zur Verfügung stellen“. Völkerrechtswidrige Tötungen durch autonome Waffensysteme, sprich Drohnen lehne man ab und ächte sie weltweit – ein Seitenhieb auf die USA. Allerdings will man „im Rahmen der europäischen Verteidigungsunion die Entwicklung der Euro-Drohne weiterführen". In der Türkeipolitik bleibt alles beim Status quo: Man wolle in den EU-Beitrittsverhandlungen weder Kapitel schließen noch neue öffnen.

„Die Erhöhung von Geldern der Entwicklungszusammenarbeit ist dringend erforderlich“, sagt auch Helene Prölß, Geschäftsführerin der Stiftung managerohnegrenzen. „Auch wenn es skurril klingt, wie es das Koalitionspapier vorsieht, dass sie für Nothilfe in Krisengebieten ausgegeben werden soll, an denen wir militärisch selbst beteiligt sind. Wesentlich erscheint uns, dass diese Gelder der Entwicklungszusammenarbeit, außerhalb von Nothilfemaßnahmen, in die richtigen Kanäle fließen. Die bisherige ‚Entwicklungshilfe‘, die weiter Abhängigkeit und Unselbständigkeit fördert, muss endlich aufhören. Nur aus einer unternehmerischen Entwicklung, die zu Klein- und Mittelstand führt, kann Armut überwunden werden. Gelder müssen dort eingesetzt werden, wo auch gesellschaftlicher Impact entsteht, der Hundertausenden von Menschen ermöglicht, endlich ihr eigenes Einkommen zu generieren und sie damit unabhängig von Spenden und Zuwendungen werden. Wenn ich immer wieder Tausende von Männer und Frauen schule, muss ich danach die Frage beantworten können: ‚Wie viele Menschen verdienen jetzt damit ihr Geld? Alle?‘ Erst wenn das gelingt, haben wir Fluchtursachen beseitigt.“

Kunst, Kultur und Medien

Das vorletzte Kapitel des Sondierungspapiers beginnt mit den Worten: „Kunst und Kultur sind Ausdruck menschlichen Daseins.“ Es ist sehr allgemein gefasst, keine konkreten Kunstprojekte werden genannt. Mit einer fortschrittlichen Kulturpolitik, so die Verhandlungsparteien, stärke man den Zusammenhalt in einer offenen und demokratischen Gesellschaft. Sie drücken den Willen aus, Kultur und kulturelle Bildung für alle zugänglich zu machen, und versprechen eine „Agenda für Kultur und Bildung“, die sich Herausforderungen wie Integration, Populismus oder Inklusion annehmen soll und unter anderem eine größere Verteilungsgerechtigkeit im Rahmen von Bundesförderprogrammen zum Ziel hat. Auch die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Künstlern im Urheberrecht und der sozialen Absicherung klingt an, ebenso wie die Gefährdung der Pressefreiheit und damit der Demokratie in anderen Ländern – weshalb die Deutsche Welle weiter gestärkt werden soll.

„Dass sich im Sondierungspapier eine ganze Seite mit Kunst und Kultur beschäftigt, ist ein positives Zeichen, das zeigt, dass sie grundsätzlich für relevant gehalten und als etwas angesehen wird, das die Gesellschaft zusammenhält“, sagt Sabine Bartsch, Autorin, Geschäftsführerin des Kulturzentrums Dieselstrasse, Vorsitzende des Netzwerks Kultur Esslingen und Teil der Landesarbeitsgemeinschaft der Kulturinitiativen und Soziokulturellen Zentren in Baden-Württemberg. „Im Hinblick auf die Verteilungsgerechtigkeit ist es leider schon immer so, dass kleine Projekte, die von Ehrenamtlichen aufgebaut werden, nicht dieselben Möglichkeiten wie größere Kulturzentren haben, Fördermittel zu bekommen, weil sie nicht das Knowhow und die Manpower für entsprechende Anträge haben. Vielleicht könnte eine Beratungsstelle hier Abhilfe schaffen. Ein weiterer Punkt ist, dass immer noch sehr viel Hochkultur gefördert wird und wenig Breitenkultur. Wenn letztere mehr in den Fokus genommen würde, würde die Kunst mehr in die Mitte der Gesellschaft rücken. Was man für Esslingen sagen kann, ist, dass junge Leute, die sich künstlerisch betätigen, immer weniger werden, viele ziehen weg in große Metropolen. Wenn es Projekte gäbe, die speziell junge Leute unterstützen, wäre das anders. Das ist vielleicht über Bundesprogramme zu regeln. Deutschlandweit ist festzustellen, dass Künstler fast immer in prekären Verhältnissen leben. Ein Grundeinkommen für Künstler ist also etwas, worüber man nachdenken könnte. Auch die soziale Absicherung sollte besser geregelt werden, damit mehr Kreative den Mut fassen, Kunst zu ihrem Beruf zu machen.“