Christie’s- Präsident Dirk Boll sieht erhebliche Anpassungen im Kunstmarkt Foto: Christie’s

Der Kunstmarkt ist im Umbruch, Die digitale Teilnahme am Markt wird immer wichtiger. Dirk Boll, Präsident des Auktionshauses Christie’s, sagt: „Die Sammlerschaft wird immer jünger“.

Stuttgart - Der Kunstmarkt ist in einem massiven Umbruch. Eine Lesart heißt: Die Folgen der Corona-Pandemie beschleunigen die Konzentration und pulverisieren die Szenerie der Privatgalerien, wie wir sie bisher kennen. Grund genug, bei Expertinnen und Experten nachzufragen – heute bei Dirk Boll, Präsident des weltweit agierenden Londoner Auktionshauses Christie’s.

Herr Boll in Ihrem neuen Buch „Was ist diesmal anders? Wirtschaftskrisen und die neuen Kunstmärkte“ skizzieren Sie grundsätzliche, längerfristige Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Kunstmarkt. Sind diese schon spürbar?

Der Digitalisierungsschub, den die Industrie im Jahr 2020 erfasste, hat neue und jüngere Sammlerinnen und Sammler auf die Kunstmärkte gebracht, und interessante Formate kreiert. Auch die etablierte Sammlerschaft zeigte sich digitalen Instrumenten gegenüber viel aufgeschlossener, als man zuvor gedacht hatte. Die Vielfalt des Austauschs über Kunst im digitalen Raum, von Instagram bis Clubhouse, ist begeisternd. Ob Kunstschaffende ihre Arbeit an die digitale Vermittlung anpassen, wird sich noch zeigen – und was das bedeuten würde.

Die Schließungen halten länger an als gedacht. Spitzt sich die Lage nun noch einmal zu?

Alle Nachteile von 2020 werden fortgeführt: mangelnde Zugänglichkeit von Orten, kein Direkterlebnis der Werke, Umsatzrückgänge. Aber die staatlichen Hilfen sind aufgebraucht, oder werden zumindest zurückgehen. Vor allem für Unternehmen mit hoher Kostenbasis wird 2021 das Jahr der Entscheidung.

Und was wird dann 2022 noch als Kunstmarkt existieren?

Das Wichtigste: Die Liebe zur Kunst und der Wunsch, Kunst zu sammeln. Verändert haben wird sich die Art und Weise, wie wir Werke rezipieren und erwerben - in beiden Bereichen wird der Anteil digitalen Verhaltens massiv gestiegen sein.

Die Auktionshäuser haben ihre Schlagzahl erheblich erhöht. Was macht diese plötzlich massiv erhöhte Nachfrage mit dem Markt?

Da der Zuwachs vor allem in der Zahl der Auktionen liegt, und hier im Bereich von Online Auktionen, lohnt sich die genauere Betrachtung. Tatsächlich wurden 2020 weltweit weniger Objekte auf Auktionen angeboten als im Vorjahr, sie wurden allerdings auf mehr Formate aufgeteilt. Sobald die Pandemie unter Kontrolle ist, werden die Auktionsmärkte wieder stärker dem etablierten Kalender folgen - vor allem, weil die Sammlerschaft diese Orientierungspunkte schätzt.

Das Fazit vieler Debatten ist: der Primärmarkt, Bühne der Erstverkäufe von Kunstwerken, könne nach den verlorenen Gefechten um eine verminderte Mehrwertsteuer , das Kulturgutschutzgesetz und anders nicht auch noch die Pandemie verkraften. Werden wir also eine erhebliche „Marktanpassung“ erleben, sprich, ein Galeriensterben?

Der Primärmarkt handelt ja qua definitionem zeitgenössische Werke, und diese werden vom Kulturgutschutzgesetz nicht erfasst. Das Folgerecht wurde vor vielen Jahren europaweit harmonisiert. Bleibt die Mehrwertsteuer, hier könnte der Staat wirklich helfen! Dass die Benachteiligung deutscher Unternehmen in Handelsbereichen ultimativ mobiler Güter derart benachteiligt wird, steht in keinem Verhältnis zum zusätzlich erwirtschaftetem Steueraufkommen.

Der Sekundärmarkt, Bühne des Weiterverkaufs von Kunstwerken, ist auch für die Galerien ein zentrales Element – wie lange noch?

Eher umgekehrt - wie weit kann man das noch ausdehnen? Schon heute ist eine funktionierende Mischkalkulation zwischen neuen, unbekannten und etablierten, gefragten Positionen sowie deren Sekundärvermarktung das Fundament erfolgreicher Galeriearbeit. Wie viel Nachwuchsbetreuung muss eine Galerie heutzutage leisten, um auf dem Primärmarkt ernst genommen zu werden?

Umgekehrt haben die Galerien während der Schließung von Kunsthallen und Museen erhebliche Vermittlungsarbeit geleistet. Übernehmen nun auch die Auktionshäuser stärker Vermittlungsarbeit. Etwa im Bereich digitaler Wege zur Kunst. Unterstellen könnte man ja etwa, dass vor allem die Großen – wie Ihr Haus – Apps mit Gaming-Aspekten und anderem platzieren.

Auktionshäuser sind kommerzielle Strukturen und stellen Plattformen. Die Auswahl eines Auktionshauses und die Preise, die seine Arbeit erzielt und veröffentlicht, haben Einfluss auf die Art und Weise, wie man künstlerische Positionen ansieht; das reicht von ,gut genug um dort präsentiert zu werden’ bis hin zu ,teuer=gut. Erst langsam erkennt die Industrie, dass dies eine kulturelle Verantwortung nach sich zieht, Stichwort ,Die andere Kunstgeschichte’. Diese Verantwortung zu leben, das könnte der Vermittlungsbeitrag der Auktionsindustrie werden. Digitale Plattformen spielen da tatsächlich eine zentrale Rolle, denn hier operieren die Teilnehmer mit hoher Reichweite und Zugänglichkeit.

Gibt es dann aber überhaupt noch Platz für langfristig arbeitende Privatgalerien?

Die Sammlerschaft wird immer jünger und internationaler, dies zeigt das enorme Marktpotential junger Kunst. Die Entdeckung neuer Positionen ist für viele Marktteilnehmer das Salz in der Suppe des Sammelns, aber auch des Handelns. Der Sekundärmarkt muss dies honorieren, denn je besser die erste Marktebenen funktionieren, desto größer das Potential der Folgemärkte.

Kräftig Aufwind erleben aktuelle Debatten unter Schlagworten wie „Blockchain“ und „Netzwerken“ mit der Absage an „Kommerz“ und „Hierarchie“. Entzieht das System Kunst hier dem Kunstmarkt bewusst oder unbewusst gerade die potenziell Interessierten zwischen 30 und 40?

Die Marktsysteme können allen Gruppen das geben, was gerade nachgefragt wird: Die Diskussion erinnert an den Beginn des professionellen Kunstinvestment vor 40 Jahren. Wie damals werden neue Ideen die Distributionssysteme verändern, aber neue Interessenten vor Kunstwerke bringen, sei es analog oder digital. Und dann kann die Kunst ihre Magie entfalten!