Sucht das Gespräch: Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock (im blauen Oberteil), umgeben von Sicherheitskräften auf dem Marienplatz. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Die Kanzlerkandidatin der Grünen trifft auf dem Stuttgarter Marienplatz auf ein junges Publikum – und auf Störer aus der Szene der Impfgegner und Coronaleugner.

Stuttgart - Eine kurze Zeit im Mai schien das Unmögliche für die Grünen möglich, sie überflügelten mit Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin in Umfragen Christ- und Sozialdemokraten. Auf den schnellen Aufstieg folgte ein nahezu stetiger Abstieg. Am Dienstag kämpfte Baerbock auf dem Marienplatz in der Landeshauptstadt gegen den Genossen Trend in den Wahlumfragen – und gegen penetrant lautstarke Impfskeptiker und Gegner der Coronamaßnahmen, die aus der Ecke zwischen Café und Kinderspielplatz an der Böheimstraße mit Trillerpfeifen, Tröten und elektronisch verstärkten Lautsprechern Baerbocks Auftritt störten und mit Plakaten für den Messengerdienst Telegram warben. Rechtspopulisten und Coronaleugner schätzen ihn.

Özdemir kritisiert Gerichtsentscheid

Baerbock („Die Stimme leidet, aber ich gebe alles.“) behauptete sich und grenzte sich, wie zuvor die Stuttgarter Wahlkreiskandidaten und Abgeordneten Anna Christmann und Cem Özdemir, klar gegen die Gruppe ab. Beide hoffen auf ein Direktmandat. Özdemir kritisierte auf dem vor allem mit jungem Publikum gut gefüllten Platz eine Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts Chemnitz. Es hat Plakate der rechtsextremen Partei „III. Weg“ mit dem Text „Hängt die Grünen“ zugelassen. 100 Meter von einem Plakat der Grünen entfernt, darf diese Aufforderung stehen. „In diesem Land wird niemand gehenkt, das ist eine Lehre aus dem Nationalsozialismus. Ich will auch keine Plakate mit einem Galgen für Frau Merkel sehen“, sagte Özdemir. Das Urteil sei „empörend“.

Baerbock lobt die Industrie

Baerbock lobte im Autoland die Autoindustrie, die mit ihrer Entscheidung, den Verbrennungsmotor für Pkw auslaufen zu lassen, weiter sei als die Bundesregierung. Baerbock schonte die SPD und griff die CDU an, die nicht verstanden habe, „was ein modernes Industrieland ausmacht“. Wirtschaft und Klimaschutz seien kein Gegensatz. Stahl, Zement und Autos könnten weiter in Deutschland hergestellt werden, „mit Wasserstoff“, so die Spitzenkandidatin, die den Kohleausstieg von 2038 auf 2030 vorziehen will. Als Ersatz braucht es enorme Mengen an Ökostrom. Zwei Prozent der Fläche Deutschlands will sie im Gegenzug für erneuerbare Energien öffnen. Aber nicht nur Klimaschutz, auch einen Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde und eine Kinder-Grundsicherung könne man am 26. September mit den Grünen wählen. Das Geld dafür, zehn Milliarden Euro, solle durch den Beibehalt des Solidaritätszuschlages bei den oberen Einkommensschichten kommen.

Baerbock im gleichen Wahlkreis wie Scholz

Armin Laschet, CDU, und Olaf Scholz, SPD, nannte Baerbock nicht bei deren Namen. Die Regierungserfahrung der „beiden Herren“ habe das Land in den letzten acht Jahren nicht wirklich vorangebracht, formulierte sie lieber. Das größte Risiko für Deutschland sei „weiter nichts zu tun“, so die 40-Jährige, die seit 2013 im Bundestag sitzt und wie Scholz im Wahlkreis Potsdam-Mittelmark kandidiert.

CDU und SPD warf sie vor, beim Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan Menschen aus quasi niederen Beweggründen im Stich gelassen zu haben: „Weil man Angst vor einer neuen Flüchtlingsdebatte hatte.“ Deutschland müsse sich in Europa stärker gegen Rassismus und Antisemitismus positionieren. „Der Rechtsextremismus ist nach wie vor die größte Gefahr für unser Land“, warnte Baerbock, die viel Beifall erhielt. Ihre Botschaft am Ende war klar: „Wir brauchen noch ein paar mehr Prozente für eine von den Grünen geführte Bundesregierung“, rief sie zur Wahl auf. Als Kandidatin muss man das scheinbar Unmögliche eben weiter als möglich beschreiben.