Die Rechtspopulisten legen überall massiv zu. Und doch driften Stadt und Land politisch auseinander. Das ist vor allem für die CDU ein gewaltiges Problem, sagt der Tübinger Rechtsextremismusforscher Rolf Frankenberger.
Auch wenn große Überraschungen ausbleiben, erzählt das Ergebnis der Bundestagswahl von regelrechten Verwerfungen in der Wählerschaft: Stadt und Land driften auseinander, das rechtsextreme Wählerpotenzial wächst und trotz Wahlsieg steckt die CDU in einer Krise. So bewerten jedenfalls Politikwissenschaftler das Wahlergebnis in Baden-Württemberg.
Besondere Aufmerksamkeit erfährt die AfD. Sie hat ihre Stimmenanteile flächendeckend verdoppelt – in Städten wie Tübingen von drei auf sechs Prozent, in Dörfern wie Grömbach von 19 auf 44 Prozent. „Das ist schon Wahnsinn“, sagt der Geschäftsführer des Tübinger Instituts für Rechtsextremismusforschung (Irex), Rolf Frankenberger.
Tübinger Forscher untersuchen rechtsextreme Muster
Das Irex wurde im Auftrag des Landtags nach den NSU-Morden gegründet, um Muster des Rechtsextremismus im Land besser zu verstehen. Die Tübinger Forscher versuchen unter anderem, Wahlergebnisse mit Strukturdaten zu erklären, etwa: Bekommt die in Teilen rechtsextreme AfD da besonders viele Stimmen, wo der Bus seltener fährt und die Arbeitslosigkeit hoch ist?
Das am Irex entwickelte Modell kann allein mit solchen Daten gut ein Viertel der AfD-Stimmenverteilung im Land erklären. Was es nicht erklären kann: Dass die AfD auch in Gegenden deutlich dazugewonnen hat, wo die Welt ausweislich der Zahlen noch in Ordnung ist. Stattdessen vermutet Frankenberger, dass am Sonntag gefühlte Wahrheiten an der Urne wichtiger gewesen seien. Er wandelt ein Marx-Zitat ab: „Das Sein entkoppelt sich vom Bewusstsein.“
Einstmals rechtsextreme Hochburgen gehen an die AfD
Die Politikwissenschaftler Julius Kölzer (Konstanz), Marc Debus (Mannheim) und Christian Stecker (Darmstadt) haben noch einen anderen Ansatz. Sie erklären die AfD-Wahlerfolge mit dem rechten Wählerpotenzial: Wo früher Parteien wie die DVU, die NPD oder die „Republikaner“ gut abschnitten, feiert auch die AfD ihre größten Erfolge.
Rolf Frankenberger hält das für plausibel, und ihm fällt ein konkretes Beispiel ein: das einstige Oberamt Balingen. „Das ist eine klassische Industrieregion, in der schon die NSDAP in den 1920er Jahren starke Ergebnisse erzielt hat. Dort sind Strukturen entstanden, die deutschnationale Muster reproduzieren – und die entsprechenden Wahlergebnisse.“
Akademiker und Arbeiter: Die Unterscheide im Wählerverhalten
Julius Kölzer weist darauf hin, dass die Gegend um Balingen aus einem weiteren Grund auffällig ist. Seine Datenanalyse zeigt: Rechtspopulisten waren am Sonntag besonders da erfolgreich, wo eher wenige Akademiker leben und viele Menschen in der Industrie arbeiten. Im Wahlkreis Zollernalb-Sigmaringen sind das 45 Prozent der Beschäftigten, bundesweit 27 Prozent. Ganz ähnliche Zahlen finden sich im benachbarten Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen.
In der Gegend hat jeder zehnte Beschäftigte einen Hochschulabschluss, im Stuttgarter Umland jeder Vierte. Rund um die Landeshauptstadt holte die AfD denn auch gut zehn Prozentpunkte weniger als im Raum Zollernalb. Das Umfeld, in dem Menschen leben, hat also etwas mit der Wahlentscheidung zu tun – 2025 vielleicht noch mehr als bisher.
Die Wahl vom Sonntag offenbart wachsende Unterschiede zwischen Stadt und Land. In Großstädten hat auch die CDU weitaus weniger dazugewonnen als in der Peripherie. Auf Landkarten mit den Stimmenanteilen heben sich die Großstadtregionen wie links-grüne Inseln in einem blau-schwarzen Meer der ländlichen Regionen ab.
Oberschwaben bildet die einzige Ausnahme: Hier sind die Grünen (und die CDU) vergleichsweise stark, die AfD eher schwach. Generell gilt: Wo die Grünen stark sind, ist die AfD oft schwach. Das gilt besonders für Gemeinden mit hohem Akademikeranteil, in den Universitätsstädten ebenso wie in deren Umland. Das deckt sich mit einer Infratest-Befragung zum Wahlverhalten nach Bildungsgrad.
Die folgende Karte zeigt die Zweitstimmenergebnisse der Parteien in Baden-Württemberg in allen Gemeinden. Klicken Sie auf den Parteinamen, um zwischen den Parteien hin- und herzuschalten.
Trotz des großen Erfolgs am Sonntag sieht Rolf Frankenberger ein großes Problem auf die Union zukommen: „Die CDU verliert ihre Bindungskraft im ländlichen Raum. Eine Zeit lang haben das die Grünen ausgeglichen, jetzt nicht mehr. Die AfD kommt der CDU auf dem Land sehr nahe.“
Um zu beurteilen, wie sich die Ergebnisse von CDU und AfD zueinander verhalten, haben wir die Zweitstimmen aus sämtlichen 1101 baden-württembergischen Gemeinden ausgewertet. Wo die CDU verglichen mit 2021 nur wenig dazugewinnen konnte, fiel der AfD-Zuwachs umso stärker aus. Das Schaubild zeigt das deutlich: die Zahl der Gemeinden oberhalb der gestrichelten Linie – wo die CDU am Sonntag verglichen mit 2021 mehr Stimmen dazugewonnen hat als die AfD – ist deutlich kleiner als die der Gemeinden unterhalb der Linie.
Für die Union womöglich noch beunruhigender: In fast allen Gemeinden legte die AfD bei den Zweitstimmen stärker zu, obwohl die im Wahlkampf dominierenden Themen Migration und innere Sicherheit von der CDU ebenfalls stark bearbeitet wurde – etwa mit Friedrich Merz’ Zustrombegrenzungsgesetz, das mit den Stimmen der AfD beinahe vom Bundestag beschlossen worden wäre. Die Rechtspopulisten mobilisierten laut einer Infratest-Erhebung zur Wählerwanderung am Sonntag etliche unzufriedene Nichtwähler, aber auch Anhänger aller anderen Parteien mit Ausnahme des BSW.
Experte: Die Objektive Lage entkoppelt sich vom Wahlergebnis
Dass die AfD in ländlichen Räumen zur ernsthaften Konkurrenz der CDU werde, hat für den Tübinger Forscher Rolf Frankenberger weniger damit zu tun, dass die Gemeinden auf dem Land überwiegend abgehängt seien oder dort alles schlechter werde: „Die objektive Lage entkoppelt sich teilweise von den Wahlergebnissen.“
Ein Milliardenprogramm für den öffentlichen Raum wäre wegen des Investitionsstaus zwar notwendig, würde aber nicht allein gegen den Aufstieg der Rechtsextremen und Populisten helfen, vermutet der Forscher. „Vielmehr braucht es darüber hinaus eine neue Idee des Konservatismus, eine konservative, ökologische und demokratische Vision, um ehemalige CDU-Wähler wieder zu binden. Es reicht nicht, populistisch gegen Windräder zu sein.“
Wie das dann bei der Bevölkerung vor Ort ankommt, können nur Befragungen in der Fläche zeigen. Das Irex müsste dafür mit vielen Menschen sprechen. Dafür fehlen bislang aber das Geld und willige Partner.