Die Gemeindehalle, die zugleich Sporthalle ist, war rappelvoll, als Siegfried Nägele seine Entscheidung bekannt gab. Foto:  

Obwohl er nicht zur Wahl stand, bekam Siegfried Nägele 50,5 Prozent der Wählerstimmen in der Gemeinde Bissingen im Kreis Esslingen. Nach etwas Bedenkzeit lehnte der 61-Jährige die Wahl ab. Warum er das tat und wie es weiter geht.

Es war eine Herausforderung der besonderen Art: Die Bewohner der 3500-Einwohner-Gemeinde Bissingen am Fuße der Burg Teck hatten bei der Bürgermeisterwahl einen Mann auf den Wahlzettel geschrieben, der gar nicht kandidiert hatte – und das so oft, dass er mit mehr als 50 Prozent gewählt worden war. Das war am 13. Oktober. Eine Woche behielt sich Siegfried Nägele vor, sich für oder gegen dieses ungewöhnliche Ansinnen aus der Bürgerschaft zu entscheiden. Am Sonntagabend war es dann so weit: Vor rund 600 Gästen erklärte er, warum er das Amt nicht annehmen könne.

Nüchterne Woche – aber die Stimme verriet Emotionen

Die Worte waren rational, nüchtern. Die Stimme allerdings verriet, dass viele Emotionen im Spiel waren, vor allem, als Nägele zu den entscheidenden Worten kam: „Trotz des hohen Vertrauens habe ich mich entschieden, die Wahl nicht anzunehmen. Meine Verantwortung sehe ich für mich und alle Beteiligten, und damit besonders auch im Sinne der Gemeinde, darin, dass eine Neuwahl der sinnvollste Weg für die Weiterentwicklung Bissingens ist“. Und gestand: „Ein Ja wäre einfacher gewesen.“

Siegfried Nägele unmittelbar nach seiner Rede. /Johannes M. Fischer

Womit er vermutlich richtig lag: Mehr als 600 Menschen waren in die übervolle Gemeindehalle gekommen, um Nägeles Entscheidung live mitzuerleben – die allermeisten in der Hoffnung, dass er sich für den Bürgermeisterposten entscheidet. Nägele selbst war für einige Tage abgetaucht, um in Ruhe seine Entscheidung zu fällen und Anfragen aus dem Weg zu gehen.

Seine Begründung für die Ablehnung war vielschichtig. Ein Bürgermeister tritt in Baden-Württemberg für acht Jahre an. Zu lange für den fast 62-Jährigen, der nach einem arbeitsvollen Leben nahe an der Rente ist. Einen Art Teilzeitbürgermeister oder einen Bürgermeister für eine verkürzte Zeit sieht das Kommunalrecht nicht vor – dahingehend hatte sich Nägele in den vergangenen Tagen ausgiebig mit dem Landratsamt und dem Regierungspräsidium beraten. Nägele: „Das Kommunalwahlrecht lässt keine halben Sachen zu. Und das ist auch gut so.“

Ein Mann mit vielen Tätigkeiten

Dazu kommt: Nägele hat einen verantwortungsvollen Job, den er nach eigener Aussage auch sehr gern macht. In einer leitenden Stellung beim Forst Baden-Württemberg sind ihm etwa drei Dutzend Mitarbeiter unterstellt. Er betreut ein Budget, das in etwa so hoch ist wie der Gemeindehaushalt. Zudem führt er noch nebenher einen landwirtschaftlichen Betrieb und ist einer von zwei Vorsitzenden des Kreisbauernverbands Esslingen. Es gebe viele Traumberufe, sagte Nägele, für ihn seien es Förster und Landwirt. Zudem mag er die Verbandsarbeit. Alles Tätigkeiten, die ihn ausfüllen, ihn aber auch zeitlich bereits stark beanspruchen. Auch als Kommunalpolitiker opfert er bereits jetzt viel seiner Zeit: Seit 35 Jahren gehört er dem Bissinger Gemeinderat an und fungiert seit 25 Jahren als ehrenamtlicher Stellvertreter des Bürgermeisters.

Viel Zeit für Privates bleibt dabei nicht – und auch das spielte in seine Entscheidung mit hinein. „Persönlich steht meine Partnerschaft im Mittelpunkt“, sagte er, und meinte vermutlich, dass er nicht möchte, dass sich an dieser Stelle etwas verrückt. Seine Entscheidung wurde unter den Gästen weitgehend wohlwollend entgegengenommen. Viele äußerten sich wie Dora Schäfer-Hack: „Ich habe Hochachtung vor seiner Entscheidung. Auch wenn ich mir gewünscht hätte, das er es macht.“ Zahlreiche Bissinger blieben noch eine ganze Weile nach der Rede in der Halle. Getränke standen bereit – privat bezahlt von Nägele.

Und wie geht es jetzt weiter? Bissingen wird noch einmal wählen müssen in den kommenden drei Monaten. Aber erst müssen sich Kandidaten finden, die für die Bewohner auch wählbar sind.