Der sogenannte Boho-Stil, eine Hippie-Mode, ist beim Discounter angekommen, und so zeigt sich endlich, wie lässig alle sind.
Kürzlich beim Discounter, man schaut so im Vorbeigehen die Auslage in der Mitte des Einkaufsladens an. Dort befinden sich Dinge, die eigentlich kein Mensch braucht, die man aber noch nicht hat und daher dann doch kauft. Etwa den digitalen Radreifendruckprüfer, das Neon-Mehrzweckseil, den Avocado-Schäler und die elektronische Parkscheibe, das Sägen-Set der Marke „Workzone“ oder das „Blackout“-Vorhangduo.
Wir studieren gerade eingehend Informationen über die Vorzüge des Filz-Organizer-Sets, 7-teilig, als junge Frauen in beiger Kleidung herbeidrängen, ihre Kinderwagen zur Seite schubsen und den Umstehenden die Ellbogen in die Rippen rammen, um sich schwungvoll zur Auslage zu beugen. Dort wird klar: Die militanten Boho-Mütter stürzen sich auf Musselin-Bettwäsche, aktuell im Angebot, in Komfortgröße, weich und atmungsaktiv. Musselin ist locker gewebt, halbdurchsichtig, feinfädig und vor 2000 Jahren in Bengalen entstanden, falls Sie das noch nicht wussten. Es ist auch jener Stoff, aus dem die Spucktücher der Kinder sind. Ebenso wie die beigen Hosen und luftigen Blusen der Mütter. Boho-Stil nennt sich diese Kleidungs- und Einrichtungsmode. Meist in hellen Farbtönen gestaltet und voll natürlich, oft auch unkonventionell oder unperfekt genannt und sehr bohemien.
Der Boho-Stil ist längst überall im Angebot – man entkommt ihm nicht
Der Boho-Stil verströmt Hippie-Charme mit Blumenkränzen im Haar und Monstera-Pflanze im Wohnzimmer. Kleidung und Möbel sind verziert mit Ethno-Designs und folkloristischen Mustern. Der Stil war immer wieder angesagt, in den 60ern, klar, in den frühen 90ern oder den Nullerjahren. Jetzt erlebt der Boho-Chic seinen vorzeitigen Trendhöhepunkt, denn er ist bei den Discountern und Baumärkten angekommen, wo man ihm überhaupt nicht mehr entkommen kann.
Dort erhält man einen „Ethnischen-Tribal-Muster-Boho-Kimono“. Oder eine „Boho-Decke beige – stilvolles Design in moderner Boho-Optik“, dazu passend das Deko-Kissen Boho sowie die Boho-Vorhangschals der Marke „Home Creation“. Auch gut ist die Boho-Teppichbrücke „Novitesse“ (Was ist eine Teppichbrücke?) oder die Boho-Servietten und das „Up2Fashion“ Damen-Boho-Kleid. Die „Tie-Dye-Langtunika“ sieht wiederum genau so aus wie das T-Shirt, das unser Sohn kürzlich im Waldheim gebatikt hat.
Diese Styles sind wirklich extrem lässig. Das merkt man beim ersten Blick durch die Lesebrille auf das Aldi-Etikett des Boho-Badvorlegers. Mütter stürzen sich so wild entschlossen auf das Design, denn viel Zeit bleibt meist nicht für den Einkauf oder überhaupt für irgendetwas, aber mit dem Boho-Teppich wird schon endlich auch der entspannte Hippie-Geist Einzug halten. Schließlich hat man sofort das Plätzchen im Kopf vor der Wohnzimmerschrankwand, wo der fransige Boho-Teppich „Bohemia oriental, waschbar“ liegen soll.
Beliebt ist längst auch die Hochzeit im Boho-Stil. So lässt sich spielerisch ausdrücken, dass Heiraten zwar altmodisch und spießig ist, in dieser Kleidung aber zum Ausdruck kommt, wie entspannt und jugendlich frech sich das Brautpaar nach wie vor fühlt, mit wilder Frisur und unkomplizierten Looks, straight outta Ibiza. Wenn dieses Paar überhaupt je sesshaft wird, dann mit Boho-Türkranz (8, 95 Euro) vor der Wohnung.
Es ist erstaunlich, wie einfach sich weltenbummlerische Lässigkeit im Industriegebiet erstehen lässt. Das ist das Versprechen der Discounter, die sich alles einverleiben. Kein gut bezahlter, weit gereister Stadthipster soll seine Ethno-Muster exklusiv haben. Es ist genug Bengalen für alle da.