Als Theologieprofessor in Tübingen hat der spätere Papst Joseph Ratzinger wegweisende Vorlesungen gehalten. Foto: dpa/Michael Kappeler

Der Bietigheimer Theologe und Pfarrer im Ruhestand Wolfgang Gramer hat in den Sechzigerjahren in Tübingen bei Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., studiert. Wie hat er ihn erlebt?

Der Bietigheimer Theologe und katholische Rundfunkpfarrer Wolfgang Gramer erinnert sich noch gut an seine Studienzeit in den Sechzigerjahren in Tübingen. 1966 und 1967 besuchte er zwei Vorlesungen von Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI. – der am 31. Dezember 2022 im Alter von 95 Jahren gestorben ist. „Die Vorlesungen waren für mich wegweisend, und ich bin ihm bis heute sehr dankbar dafür“, sagt Gramer (80). So habe er durch ihn die biblischen Schöpfungsberichte ganz neu sehen gelernt, dass sich Naturwissenschaft und Glaube nicht widersprechen könnten, weil sie ganz andere Fragen stellen würden: „Die Naturwissenschaft fragt nach dem Wie, der Glaube nach dem Warum.“ Ratzinger habe auch deutlichgemacht, dass Gott allen Menschen dieselbe Würde gegeben habe, denn in Adam, was im Übrigen „der Mensch“ heiße, habe er allen gleichermaßen den Lebensodem eingehaucht.

Unvergessen ist Gramer auch die Aussage Ratzingers: „Wenn am Grab Jesu Fernsehkameras gewesen wären, hätten sie nichts aufgenommen.“ Denn die Auferstehung sei keine Wiederbelebung. Der irdische Leib werde begraben, was auferstehe, sei der geistliche Leib. Als Professor für Dogmatik sei Ratzinger stets hinter seine Botschaft zurückgetreten und auch sonst sehr demütig gewesen. Ein schönes Beispiel, um das zu illustrieren: „Joseph Ratzinger kam mit dem Fahrrad in die Vorlesung, Hans Küng mit dem Alfa Romeo.“ Anders als mit Küng habe man mit Ratzinger auch nicht streiten können. Zu vorgebrachter Kritik habe er oft nur gelächelt.

Demütig und wenig diskussionsfreudig

Und so hat es Gramer im Nachhinein und aus der Ferne – er selbst war damals schon am Priesterseminar – auch nicht überrascht, dass Ratzinger mit der Studentenrebellion von 1968 überhaupt nichts habe anfangen können und dann auch ins konservative Regensburg gegangen sei. Dasselbe gelte für die lateinamerikanische Befreiungstheologie mit Elementen des Marxismus, die damals aufgekommen sei.

Ratzinger habe eher die gängige Ansicht vertreten: Wer arm ist, ist ein Heiliger, aber wer fragt, woher die Armut kommt, ist ein Kommunist. „Damals hätte ich gern mal mit ihm gesprochen. Und ich hätte ihm gewünscht, mal vier Monate am Amazonas zu sein“, so Gramer. Er macht auch kein Hehl daraus, dass er sich schon bei Ratzingers Wahl zum Papst eher den jetzigen Papst Franziskus gewünscht hätte, betont aber: „Ich war nicht enttäuscht von Benedikt; er hat vieles gesagt, über das man nachdenken muss.“ Manche seiner kritisierten Aussagen, etwa zum Islam oder zu anderen Kirchen als der katholischen, seien wohl einfach unglücklich formuliert gewesen.