Marion Cotillard in einer Art Märchen, Rose Byrne in Bestform als verzweifelte Mutter – diese und noch mehr Filme mit Eltern- und Familienstoff gab es zur Halbzeit des Festivals.
Mit Beharrlichkeit, ja Begeisterung trotzt aktuell während der Internationalen Filmfestspiele nicht nur die anwesende Presse, sondern nicht zuletzt das Berliner Publikum den eisigen Temperaturen, die die Hauptstadt seit Beginn der Berlinale im Griff haben. Das spricht Bände über die allgemein positive Stimmung, die seit Amtsantritt von Tricia Tuttle als Leiterin des größten deutschen Filmfestivals herrscht.
Die im Wettbewerb laufenden Filmen tragen dazu allerdings nur bedingt bei. Einerseits fehlen – bei viel Sehenswertem – bislang die ganz großen künstlerischen Erlebnisse. Und andererseits sucht man, nicht überraschend, Fröhlichkeit und Optimismus in den gezeigten Geschichten meistens vergebens. Mitunter weht einem sogar eine Eiseskälte entgegen, die es mit dem Wetter vor dem Berlinale-Palast aufnehmen kann.
Abgründe einer überbelasteten Frau
Marion Cotillard etwa kehrte mit „La tour de glace“ zum Festival zurück, wo 2007 „La vie en rose“ Premiere feierte und der Aufstieg der Französin zum Weltstar begann. Für die Regisseurin Lucile Hadžihalilović verkörpert sie eine Schauspiel-Diva, die in den 70er Jahren als Schneekönigin in einer Andersen-Adaption vor der Kamera steht und in den Kulissen auf eine junge Waise (Clara Pacini) stößt, die dort nicht ganz zufällig Unterschlupf sucht. Das Ergebnis ist eine wortkarg-unterkühlte Märchen-Variation, die mehr von Atmosphäre als von Plot lebt, aber darin doch betört.
Während Cotillard bereits Oscar-Gewinnerin ist, würde man das für die Zukunft auch Rose Byrne zutrauen, wie nun ihre Hauptrolle in „If I Had Legs I’d Kick You“ eindrücklich untermauert. Die Australierin spielt in Mary Bronsteins Film eine arbeitende Mutter, der zwischen Job, dauerabwesendem Mann und schwerkrankem Kind buchstäblich die Decke auf den Kopf fällt. Umgelagert in ein Hotel und befeuert durch Alkohol und Drogen stößt sie zusehends an ihre Grenzen, was die Regisseurin mit ganz subjektiver Perspektive (das Kind ist nur zu hören, nicht zu sehen) und einer sich nervös Richtung Ausweglosigkeit steigernden Beklemmung inszeniert. Ein anstrengender, in aller Bitterkeit oft herrlich komischer Film, der neben Byrnes Meisterleistung sogar den diesjährigen Oscar-Moderator Conan O‘Brien in einer kleinen Rolle zu bieten hat.
Um Elternschaft ging es, auf ganz unterschiedliche Weise, auch in anderen Berlinale-Filmen. Benedict Cumberbatch etwa spielt in „The Thing With Feathers“, der am Dienstag außer Konkurrenz als Berlinale-Special gezeigt wurde, einen frisch verwitweten Illustrator, dessen Trauer die Gestalt einer riesigen Krähe annimmt, die seinen Pflichten als Vater gefährlich in die Quere kommt. Leider kommt Regisseur Dylan Southern zwischen der einigermaßen plumpen Metapher im Zentrum und dem Spiel mit Horror-Elementen die Subtilität in dieser Romanverfilmung schnell abhanden.
Telepathie eines Mädchens
Vor einem Problem vollkommen anderer Art stehen die Eltern im ersten deutschen Bären-Anwärter „Was Marielle weiß“. Nach einer Ohrfeige in der Schule kann die junge Titelheldin plötzlich alles hören und sehen, was Mutter Julia (Julia Jentsch) und Vater Tobias (Felix Kramer) tun – Tag und Nacht. Was für das Mädchen verstörend ist, droht bald den Erwachsenen die sich selbst und anderen gegenüber mühsam aufrecht erhaltene Fassade einer heilen Welt einzureißen.
Die Prämisse, die sich Regisseur Frédéric Hambalek für seinen zweiten Spielfilm hat einfallen lassen, ist reizvoll, dass er bei der Umsetzung auch auf Humor setzt, erfreulich. Am Ende hat man jedoch nicht den Eindruck, dass er aus dieser Idee wirklich das meiste herausgeholt oder den idealen Schlusspunkt gefunden hat. Die große Bühne des Wettbewerbs erweist sich entsprechend als nicht der optimalste Ort für diesen Film.
Einige andere deutsche Produktionen wussten in den Nebensektionen dagegen umso mehr zu überzeugen, allen voran „Hysteria“ vom Kölner Regisseur und Autor Mehmet Akif Büyükatalay. Seine Geschichte über die fiktionalen Dreharbeiten zu einem Film über den rechtsextremen Brandanschlag in Solingen 1993, bei denen die junge Regieassistentin Elif zwischen alle Fronten gerät, ist eine ungemein kluge, facettenreiche und unerwartet humorvolle Auseinandersetzung mit hochaktuellen gesellschaftspolitischen Diskursen und eine der erfreulichsten Überraschungen dieses Festivals. Auch dank der fantastischen Hauptdarstellerin Devrim Lingnau, die am Montagabend auch als einer der diesjährigen European Shooting Stars geehrt wurde.
Seinen vielleicht bislang besten Film hat auch Jan-Ole Gerster abgeliefert. „Islands“, ebenfalls gezeigt als Berlinale-Special, ist – genau wie Nele Mueller-Stöfens Regiedebüt „Delicious“ – ein deutscher Urlaubsthriller mit prächtiger Kameraarbeit. Gersters flirrend-hitzige Geschichte über einen Tennislehrer auf Fuerteventura, dessen trostloser Alltag durch die Ankunft einer britischen Kleinfamilie und dem anschließenden Verschwinden des Vaters ordentlich ins Kippen gerät, lebt neben den starken Bildern auch von Hauptdarsteller und Wahl-Berliner Sam Riley, der selten besser war.