Szene aus „Herbstmilch“ im Esslinger Schauspielhaus mit Katja Uffelmann und Barbara Stoll. Foto: Zauner - Zauner

Von Verena Grosskreutz

Esslingen – „Neidig bin ich nicht, aber missgönnen tu‘ ich ihr das schon“, grantelt eine aus dem Dorf spitzlippig. Sie kann die Anna Wimschneider, die Bäuerin aus dem armen Niederbayern, nicht verknusen, weil sie einen riesenerfolg hat mit ihren lebenserinnerungen – und das unfreiwillig: Eigentlich waren ihre Aufzeichnungen ja bloß für die Augen ihrer Enkelin gedacht, dass die was hat zum Erinnern hat. Aber als „Herbstmilch“ wurden sie dann 1985 ein Bestseller, auch die Verfilmung von Joseph Vilsmaier wurde 1988 ein Kinoerfolg. und wie es ausschaut, könnte auch die kleine, aber feine Bühnenadaption des Buches, welche jetzt im Podium I des Esslinger Schauspielhauses Premiere hatte, ein Hit werden. Sabine Bräuning hat die jüngste Produktion der Esslinger landesbühne (WlB) eingerichtet und inszeniert.

Immer übermüdet, immer hungrig

Nach wie vor zieht einen das Schicksal der Bäuerin in den Bann, deren Mutter bei der Geburt des neunten Kindes starb und die, gerade einmal achtjährig, deren rolle übernehmen musste: für Vater und Brüder kochen, die Kleinen versorgen, putzen, waschen, das Vieh versorgen. Zwischendurch hetzt sie in die Schule – immer übermüdet, immer hungrig. Aber nicht nur die lebensgeschichte der 1918 Geborenen, die stellvertretend für unzählige Frauenschicksale stehen mag, fasziniert. Auch der wundersam lakonische Stil, der die furchtbaren lebensumstände und ihre grotesken Seiten klischeefrei und ohne larmoyanz auf den Punkt zu bringen vermag, kommt in dieser Inszenierung eindrücklich zur Geltung. Es spielen zwei gestandene und charismatische Weibsbilder. Dunkelhaarig, robust die eine: Barbara Stoll, kleiner, jünger, zierlich und blond die andere: Katja uffelmann. Der Erzählfluss des Buches wird beibehalten – gewürzt durch klangschönes Bayerisch: Mal sprechen beide im Wechsel, mal im Dialog, mal verketten die beiden ihre Sätze. Gleichzeitig wird das Geschehen mit sparsamen, aber präzise eingesetzten darstellerischen Mitteln plastisch gemacht. Virtuos und in schnellem tempo wechseln sie tonfälle, Ausdruck, Mimik, Körperhaltungen: spielen die junge und die alte Anna, switchen zum breitbrüstigen Albert – Annas Geliebten – zur Nachbarin, zum zahnlosen Onkel oder zur zeternden Schwiegermutter. Stoll gibt den grummelnden Vater, der seiner tochter nicht erklären kann, dass sie keine tödliche Krankheit hat, sondern schlichtweg ihre erste Periode. uffelmann erzählt die unbeschreiblich komische Geschichte um die Sau, die „schwarz geschlachtet“ werden soll und letztlich im Stall müde gejagt wird – unter beträchtlichem Getöse und Geschrei. Für sanfte Zäsuren im quicklebendigen Spiel sorgen immer wieder folkloristische Akkordeonklänge.

Die Bühne (Katrin Busching) ist karg wie die lebensumstände: Zwei Holzstühle auf Bodendielen, hinten die weißgekalkte Wand und zwei schwere Holztüren. Die beiden Frauen tragen robuste Schnürstiefel, grobstoffige röcke und Jacken. Manchmal wird die „Herbstmilch“-taschenbuchausgabe gezückt und daraus gelesen. Oder aus der prallen reisetasche wird die Wäsche geschüttet, die Anna zu waschen hat – doch die schläft im Stehen ein und fällt in den Kleiderhaufen. Auch die Heirat mit ihrem geliebten Albert bringt zunächst nur unbill: Auf dessen Hof warten eine fiese Schwiegermutter und ein Haufen altersschwächelnder Onkel und tanten. und kaum ist Albert zum Kriegsdienst eingezogen worden, fangen die Demütigungen an. Anna muss ackern und sich auf dem Feld schinden, selbst als sie hochschwanger ist. Es ist eine große Qualität des straffen, einstündigen theaterabends, dass er frei ist von Sentimentalität oder zorniger Anklage. „Armut“, heißt es einmal, „war ein Schicksal, dagegen konnte man nichts tun.“ Das ist eine der schlichten lebensweisheiten, die Anna Wimschneider vor Groll bewahrten.

Die nächsten Vorstellungen: morgen, 19. und 22. April sowie 6., 12. und 14. Mai