Laute, originelle Gegenbilder zur ausgebeuteten Frau: Josephine Köhler (links) und Peaches. Foto: Bernhard Weis - Bernhard Weis

Das Ballett „Die sieben Todsünden“ ist eine Tour de force von der Ausbeutungsanklage bis zum radikalen Feminismus – unter Mitwirkung von Electroclash-Star Peaches.

StuttgartEs ist eine tolle Show. Der Abend im Stuttgarter Schauspielhaus bricht keineswegs unter der medialen Aufmerksamkeit, der hohen Erwartungshaltung von sämtlichen Seiten ein: Gemeinsam legen das Schauspiel, das Staatsorchester, zwei Tänzer vom Stuttgarter Ballett und vier Sänger von der Oper mit ihrem Gaststar aus dem Electroclash eine spannende Inszenierung der „Sieben Todsünden“ hin, gefolgt von einem grellen Live-Konzert von Peaches und einem entrückten Epilog. Das Schauspiel tanzt, das Ballett singt, die Oper spielt, und alle zusammen tun es richtig gut, als ein nahtlos verschweißtes, gemeinsam agierendes Ensemble.

In einen Boxring ist das halbstündige „Ballet chanté“ aus dem Jahr 1933 hier verlegt, mit dem Kurt Weill und Bert Brecht die Geschichte der jungen Anna erzählen, die von ihrer Familie losgeschickt wird, um Geld für ein Häuschen zu verdienen. In der von George Balanchine inszenierten Uraufführung war Anna in eine Sängerin und eine Tänzerin aufgespalten. In der Regie von Anna-Sophie Mahler gibt es jetzt in Stuttgart gleich vier Annas, alle tragen die gleiche asymmetrische Frisur.

Während Peaches die sarkastischen Songs mit einem herben, satten Brecht-Ton in der englischen Version intoniert, schlagen sich hinter ihr im Boxring Josephine Köhler und Louis Stiens. Mal gewinnt die eine, mal der andere, der Kampf ums Geld ist ein Kampf gegen sich selbst, bei dem die besungenen Todsünden wie Faulheit, Stolz, Zorn oder Habsucht schon von Brecht und Weill zynisch ins Gegenteil verkehrt wurden: Nur durch bewusstes Sündenbrechen kommt man zu was, gleichzeitig tötet der Kapitalismus jede Form von Gefühl in den Annas. Louis Stiens hat die Boxkämpfe auf die Musik choreografiert, immer wieder bricht der Tanz aus den beiden Annas heraus – als virtuose Drehung, als Verzweiflung, als offensives Posieren und Provozieren. Zwischen sterbendem Schwan und wilder Avantgarde findet Stiens durchweg beeindruckende Bilder für sich und die Schauspiel-Kollegin Josephine Köhler, die sich grandios bewegen kann.

Nur Boxen bringt Geld

Aber Anna darf nicht tanzen, denn nur Boxen bringt Geld: Das vierstimmige Quartett ihrer Familie wurde schon von Kurt Weill ironisiert, indem er die Mutter mit einem Bass besetzte, hier mutieren Elliott Carlton Hines, Gergely Németi, Christopher Sokolowski und Florian Spiess zu einer Mafia-Familie von Boxtrainern. Über ihren kirchlich getönten Harmoniegesängen agieren sie teils bedrohlich, teils sehr lustig, etwa in einem Schattenspiel, wo sie Anna zertreten. Dicht gedrängt sitzt das große Orchester um den Ring herum an den Seiten, Dirigent Stefan Schreiber lässt seine Musiker ironisch walzern und setzt scharfe Akzente. Peaches und die vier Herren werden per Mikroports verstärkt, auch Köhler und Stiens singen einige Zeilen. Nachdem das letzte Weill-Lied über den Neid bereits so klang, als wär’s ein Song von Peaches, stürmt die Sängerin durch den Zuschauerraum hinaus, die kämpfenden Annas brechen erschöpft zusammen, das Sängerquartett wird einfach rausgeschoben.

Proletin der Weiblichkeit

„Ich spreche als Proletin der Weiblichkeit“, setzt Josephine Köhler da an. Sie entwickelt aus der Streitschrift „King Kong Theorie“ der radikalen französischen Feministin Virginie Despentes einen heftigen Monolog über den kulturell anerzogenen Masochismus der Frauen, tanzt so sarkastisch mit den Worten wie zuvor im Ring. Dann schwebt der Boxring nach oben weg (Bühne: Katrin Connan), und Peaches schwebt als Erlöserin von den Sünden ein – mit fünf Brüsten und einem blonden Eierkopf, was für ein Auftritt. Es folgen ihre „Seven Heavenly Sins“, sieben ihrer großen Hits, die Übertitelanlage verkündet die passenden Todsünden dazu, und die Annas bebildern die lauten Elektrobeats. Zu „Vaginoplasty“ schütteln sich Köhler und Stiens als behaarte Vaginas, zu „Stuff me up“ schiebt sich Köhler derart lasziv eine Banane in den Mund, dass jeder Mann im Publikum Angst bekommen müsste. Zwischendurch treten die vier Herren von der Oper auf und putzen mal eben das Podium. Bei „Neid“ blicken sie Stiens und seinem Traumkörper nach, der Balletttänzer spreizt sich jetzt auch im Voguing-Stil, produziert sich als Laufsteg-Model und Peaches-Schoßtier. Die laute, originelle Show präsentiert das Gegenstück zur ausgebeuteten Anna aus dem Brecht/Weill-Stück: Diese Frau dreht den Spieß radikal um, laut, obszön und ohne alle Skrupel.

Eine Frau ruht in sich selbst

Natürlich provoziert Peaches, mit beleuchteten Unterhosenschlitzen, mit einem aufgeblasenen Riesenkondom, in dem sie, inzwischen ebenfalls barbusig wie Köhler, zu „Dick in the air“ herumspaziert. Hinten ejakuliert die Lightshow, Elliot Carlton Hines legt noch eine kleine Einlage auf High Heels hin, die Stroboskop-Lichter drehen durch. Und dann steht im langen, fließenden Kleid plötzlich Melinda Witham da, die 64-jährige Charaktertänzerin vom Stuttgarter Ballett, die zuvor einsam und als einzige völlig stumm durchs Geschehen wandelte. Sie geht als alte Anna mit wenigen, ausdrucksvollen Bewegungen ins Licht, begleitet ein letztes Mal von der Zahl sieben: den sieben atonalen, in eine jenseitige Streicher-Seligkeit hineintönenden Fragen, die Charles Ives in seinem kurzen Orchesterwerk „The unanswered question“ von einer einsamen Trompete stellen lässt. Sechsmal antworten die Holzbläser, die letzte Frage bleibt ohne Antwort – ein stiller, offener Schluss, der einerseits die ganze Feminismus-Debatte etwas unvermittelt auflöst, indem er den Fokus auf eine noch existenziellere Ebene hebt, und der andererseits auch das Ergebnis der ganzen Provokationen zeigt: Wir sehen eine stolze, abgekämpfte, aber in sich ruhende Frau. Was für ein schönes Bild. Was für ein aufregender Abend!

Weitere Aufführungen, empfohlen ab 16 Jahren: 7., 17., 25. Februar, 2., 10., 23., 30. März.