Werkstattbericht: Autorin Nina Bußmann erklärt Foto: Kaier - Kaier

„Wer verschwindet, will gesucht werden“: So lautet das Motto von Nina Bußmanns zweitem Roman „Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen“. Bei LesART stellt die Bahnwärter-Stipendiatin ihr Werk vor und gibt Einblicke in den Schreibprozess.

EsslingenWer verschwindet, will gesucht werden.“ Der erste Satz muss sitzen oder mit den Worten von Journalismus-Altmeister Wolf Schneider: „Mit einem Erdbeben anfangen und dann langsam steigern.“ Sonst springt der Leser ab, bevor es richtig losgeht. Das gilt für Journalismus ebenso wie für Belletristik. Mit einer Naturkatastrophe beginnt die Berliner Schriftstellerin Nina Bußmann ihren zweiten Roman zwar nicht, dafür aber mit einem Flugzeugabsturz und einem knackigen Einstieg. So bleibt das LesART-Publikum sitzen in der Stadtbücherei Esslingen und hört der Bahnwärter-Stipendiatin zu, wie sie vorliest aus ihrem aktuellen Buch mit dem etwas sperrigen Titel „Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen“ (Suhrkamp, 22 Euro).

Bußmann erzählt von Nelly, einer 32-jährigen Seismologin, deren Flugzeug plötzlich vom Radar verschwunden ist. Anfangs verläuft die Suche erfolglos, dann werden Trümmer in Nicaragua gefunden – von Nelly fehlt weiter jede Spur. Doch wer verschwindet, will gesucht werden: Davon ist Nellys Freundin daheim in Frankfurt überzeugt. Sie macht sich auf den Weg nach Mittelamerika, quartiert sich in Nellys Zimmer ein und rekonstruiert aus zurückgelassenen Aufzeichnungen und Gesprächen mit Bekannten das Schicksal der Verschollenen.

Das klingt nach Krimi oder Abenteuerroman. Aber Laudatorin Katja Lange-Müller warnt vor falschen Erwartungen: „Die Spannung erwächst nicht aus der Handlung, sondern aus dem inneren Erleben der Figuren.“ Und das ist vertrackt: Nelly, die eigentliche Hauptfigur, ist dem Roman abhanden gekommen. Daher kreist der Text um eine leere Mitte. Nellys Persönlichkeit und Leben will die Frankfurter Freundin und namenlose Ich-Erzählerin in immer neuen Anläufen zu fassen bekommen. Doch ihre Motive sind fragwürdig: Nicht die Suche nach der Freundin steht für sie im Vordergrund, sondern die Flucht vor den eigenen beruflichen und privaten Problemen. Als unzuverlässig erweist sich die Erzählerin auch, weil sie Nelly kaum kennt und auch andernorts kaum brauchbare Auskünfte erhält: „Fast alles, was ich über sie und ihre Arbeit weiß, habe ich mir anlesen und von anderen erzählen lassen müssen. Fast alle, mit denen ich sprach, hatten mit Erinnerungslücken und Erzählbarrieren zu kämpfen. Jedenfalls entwickelte ich schnell Übung darin, in Ausweichmanövern und abgebrochenen Sequenzen die Stümpfe aufgeschichteter Erfahrung zu ergänzen.“ Die Ich-Erzählerin stopft also Wissenslücken mit selbstfabrizierten Fiktionen.

Entgegen den Erwartungen an eine promovierte Soziologin wendet sich die Ich-Erzählerin von den faktenbasierten empirischen Wissenschaften ab und stattdessen esoterischen Verschwörungstheorien zu. Nicht nur ihre Quellen sind dubios, auch ihre Methoden: Sie bestreitet sogar selbst ihre Eignung zur Detektivin, „unfähig, selbst den einfachsten Krimihandlungen zu folgen, viel zu leicht verlor ich mich in nebensächlichen Details, ich interessierte mich für dunkle Taten, aber nicht für die Aufklärung ihrer Motive“.

Entsprechend unsystematisch, willkürlich und ineffizient verlaufen ihre Recherchen. Diese konfuse Suche spiegelt sich in der Romanstruktur wider: Die Erzählung ist nicht kausal und chronologisch strukturiert. Stattdessen besteht sie aus einer wirren Abfolge von Gegenwartserfahrungen und Erinnerungen, philosophisch-psychologischen Reflexionen und naturwissenschaftlichen Zitaten. Das Bild, das so von Nelly entsteht, ist ein stets vorläufiges Mosaik aus Versatzstücken, das die Ich-Erzählerin nach und nach zusammenpuzzelt.

Das Bild, das Autorin Bußmann in der Stadtbücherei binnen anderthalb Stunden abgibt, ist nicht weniger komplex: In ihren schwarzen Schlabberklamotten haftet der großen, schlanken Frau trotz ihrer 38 Jahre etwas Jungmädchenhaftes an. Aus Berlin ist sie angereist, wo sie erst Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie studiert hat und jetzt als Schriftstellerin lebt. Ein wenig spröde wirkt Bußmann, ein wenig unnahbar, genau wie ihre Sprache: schlank, schlicht, schnörkellos, direkt auf den Punkt. Manche Autoren, die guten, besitzen einen eigenen, unverkennbaren Ton – Nina Bußmann zählt zu ihnen.

Doch nicht jeder gute Schreiber ist auch ein guter Vorleser: Mit ihrer angenehm klaren, hellen Stimme hastet Bußmann in einem monotonen Sing-Sang durch die Seiten. Auch mit Moderator Thomas Rothschild wird die Autorin nicht recht warm: Rothschild fragt nach Entweder/Oder, Bußmann antwortet mit Sowohl/Als-auch – zögernd, einsilbig, defensiv. Aus dem Gespräch erfahren die LesART-Gäste dennoch Interessantes über den Schreibprozess: Rothschild fragt nach der Krimistruktur. Bußmann erklärt: „Ich begreife das Schreiben als Detektivarbeit, weil ich beginne und nichts über die Figuren weiß. Das Erzählen ist die Suche nach den Figuren.“ Zuweilen blitzt sogar ein Fünkchen Selbstironie auf. Auf die naturwissenschaftlichen Zitate angesprochen, sagt Bußmann: „Der Text ist klüger als die Autorin. Da stehen lauter Sachen drin, die ich nur halb verstanden und schon wieder vergessen habe.“ Die politische Lage in Nicaragua werde nur gestreift, kritisiert Rothschild. „Politik sollte in Literatur nicht in Form von Thesen vorkommen“, kontert Bußmann. „Ich beschreibe, wie die Welt aussieht, die politisch gemacht wird.“ Wie es denn dann um den Realitätsgehalt ihrer Ortsbeschreibungen bestellt sei? „Das gibt es alles, aber nicht in dieser Zusammensetzung“, verrät Bußmann. „Es geht nicht darum, etwas abzuschildern, sondern es neu zusammenzusetzen zu einer Fiktion.“

„Ich wollte über die Ungewissheit sprechen, warum wir sie so schlecht aushalten“, sagt die Ich-Erzählerin im Text. In diese Ungewissheit zieht Bußmann ihre Zuhörer hinein und schlägt sie damit bis zum Schluss in Bann: Ist Nelly tatsächlich tot oder hat sie sich in der Einsamkeit Mittelamerikas neu erfunden, wofür das Nicht-Gefunden-Werden die Voraussetzung ist? Und die Ich-Erzählerin, nutzt sie ihre Namenlosigkeit, um ebenfalls abzutauchen, oder kehrt sie zurück nach Deutschland in ihr Soziologen-Elend? „Wer verschwindet, will gesucht werden.“ Dieser Aufforderung kommt bei der LesART der ganze Kutschersaal nach.