Wegen des Platzmangel in den Therapieeinrichtungen für suchtkranke Straftäter kommen in Baden-Württemberg immer wieder Straftäter frei. Der Sozialminister steht unter Druck.
Weil Plätze in Entziehungsanstalten fehlen, kommen in Baden-Württemberg immer wieder Straftäter auf freien Fuß. Ihre Zahl bleibt auf hohem Niveau. Laut Justizministerium wurde in diesem Jahr bei 33 verurteilten Kriminellen, die eigentlich in den sogenannten Maßregelvollzug sollten, wegen zu langer Wartezeit die Freilassung angeordnet. Im Vorjahr gelang es bei 35 Straftätern nicht, ihnen rechtzeitig einen Platz in einer Therapieeinrichtung zuzuweisen.
„Die Hütte brennt“, sagte der Vizechef der FDP im Landtag, Jochen Haußmann, der Deutschen Presse-Agentur. Unter den Entlassenen seien auch Männer, die wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden seien. Laut Sozialministerium kommen Täter mit erheblichen Gewaltdelikten nicht vorzeitig frei. „Die Entwicklung steigert das Sicherheitsgefühl der Menschen nicht gerade“, sagte Haußmann.
Das Ressort von Sozialminister Manfred Lucha setzt nach eigenen Angaben aber alles daran, die Kapazitäten zu erhöhen. „Die laufenden Planungen haben selbstverständlich das Ziel, die aktuellen Engpässe zu beheben“, sagte ein Sprecher des Grünen-Politikers.
Klinik in Schwäbisch Hall soll Abhilfe schaffen
Mit der Fertigstellung einer Klinik in Schwäbisch Hall bis Ende 2024 oder Anfang 2025 sollen dann auch langfristig wieder so viele Therapieplätze zur Verfügung stehen, dass es nicht mehr zu Freilassungen wegen Platzmangels komme.
Auch die SPD-Landtagsfraktion geht mit Lucha hart ins Gericht: „Wenn Verurteilte einfach davon spazieren, weil es in Baden-Württemberg an den entsprechenden Plätzen fehlt, ist das ein Nackenschlag für den Rechtsstaat, dem der Sozialminister tatenlos zusieht“, sagte der Strafvollzugsexperte der SPD, Jonas Weber. Das Ministerium habe jahrelang vor diesem Problem die Augen verschlossen.
Im September 2022 waren etwa 1400 Menschen im Maßregelvollzug - ein Drittel mehr als 2017. Es gibt viele Gründe für die angespannte Situation in Baden-Württemberg. Die sieben Zentren für Psychiatrie, wo die Therapien stattfinden, sind randvoll. Neben der Verdichtung in den bestehenden Einrichtungen, die zu Aggressionen unter den Patienten führen, sind Neu- und Erweiterungsbauten geplant, die aber nicht kurzfristig Luft verschaffen. Durch Neubauten an den Standorten Calw und Wiesloch werden erst Ende 2023 oder Anfang 2024 rund 100 neue Therapieplätze geschaffen. In Schwäbisch Hall sollen 100 Plätze entstehen. Damit seien dann die Lücken geschlossen, hieß es aus dem Ministerium.
Heidelberg als Lösung?
Aber bis zum Abschluss dieser Projekte braucht Lucha noch eine Übergangslösung, die er mit der Umwandlung des Heidelberger Ex-Gefängnisses „Fauler Pelz“ gefunden zu haben glaubte. Doch dieser Plan trifft auf erbitterten Widerstand in der Stadt mit Oberbürgermeister Eckart Würzner (parteilos) an der Spitze, im Gemeinderat und der Universität, die den Komplex selbst nutzen will. Die Stadt geht auch in mehreren Verfahren gerichtlich gegen die Pläne für die Immobilie im Besitz des Landes vor.
Nach Ansicht des FDP-Politikers Haußmann hat allein Lucha die Schuld an der Misere. „Er hat versäumt, die Stadt einzubeziehen und einen Kompromiss zu finden.“ Eigentlich hätte der Minister schon früher auf die Entwicklung reagieren müssen. Den Vorschlag der FDP, eine Aufnahme in anderen Bundesländern ohne Platzprobleme zu arrangieren, habe er in den Wind geschlagen. Beide Oppositionspolitiker sehen trotz der verfahrenen Lage keinen anderen Weg für Lucha, als nochmals auf die Stadt zuzugehen, denn es gebe keine Alternative zum „Faulen Pelz“ in Heidelberg.
Zur Überfüllung der Einrichtungen haben vor allem die vagen gesetzlichen Anforderungen des Paragrafen 64 im Strafgesetzbuch für die Unterbringung im Maßregelvollzug und deren großzügige Auslegung durch die Gerichte geführt. In einem von Sozialministerium und Opposition begrüßten Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums sollen die Regeln enger gefasst werden.
Bereits 2019 kam es zu Freilassungen
2019 mussten im Südwesten erstmals Straftäter wegen Platzmangels freigelassen werden. Ein Jahr später waren es sechs Menschen, die die Justizvollzugsanstalt verlassen konnten, weil die sogenannte Organisationshaft zu lange dauerte - die „Organisationshaft“ ist die Dauer zwischen Urteil und Überführung in den Maßregelvollzug, eine konkrete Zeitspanne ist dafür nicht festgelegt. Sie ist verfassungsgemäß, wenn unmittelbar nach dem Urteil die Verlegung aus der Haftanstalt in den Maßregelvollzug organisiert wird. Andernfalls ordnen die Gerichte die Freilassung an.
Ende September dieses Jahres meldete das Sozialministerium 74 Menschen in Verbindung mit Paragraf 64 in Organisationshaft - die meisten mit Wartezeiten von mehr als drei Monaten. 154 weitere Straftäter warteten aufgrund anderer gesetzlicher Grundlagen auf einen Therapieplatz.