Julia Theermann Foto: Roberto Bulgrin

Im Wartezimmer versucht man ja immer angestrengt, nichts zu bemerken. EZ-Reporterin Julia Theermann hat sich über diese Konvention hinweggesetzt.

Esslingen/Stuttgart - Beim Warten im Wartezimmer einer Arztpraxis versucht wohl jeder, so wenig wie möglich aufzufallen und sich nicht aus dem kleinen Mikrokosmos seines Sitzplatzes herauszuwagen. Der Blick klebt am Smartphone oder der zerfledderten Illustrierten, unterhalten wird sich - wenn überhaupt – im Flüsterton, und man hat das Gefühl, jeder wäre lieber woanders. So geschehen neulich in Stuttgart. Ich komme um 8.39 Uhr an. Termin habe ich um 8.40 Uhr. Etwas knapp, aber wird schon passen. Ich werde gebeten, im Wartezimmer Platz zu nehmen.

Dort wartet schon ein Mann Mitte bis Ende 30, der seiner kleinen Tochter ein Buch vorliest. Nachdem ich eine Weile angestrengt versucht habe, nicht zuzuhören, gebe ich auf und lausche der Geschichte. Alles verstehe ich nicht, denn auch der Vater flüstert wartezimmergerecht. Es scheint um die Weltreise einer Gruppe von Meerschweinchen zu gehen. Auch eine junge Mutter hat ihr Kind mit zur Sprechstunde genommen. Gerade erst reingekommen, läuft die Kleine zielstrebig auf das Schaukelpferd in der Ecke zu, hebt unterwegs einen Hai aus Plüsch auf und erklärt, mit dem Kuscheltier reiten zu wollen. Bevor sie den Plan in die Tat umsetzen kann, wird Mama aufgerufen und für das Mädchen bricht eine Welt zusammen. Große Heulstürme können aber abgewehrt werden: Der Kuschelhai mit den toten Plastikaugen darf mit ins Sprechzimmer. Doch auch die erwachsenen Wartenden können ganz interessant sein. Das von Kopf bis Fuß in Sportklamotten gekleidete Pärchen, das rechts neben mir sitzt, plant im Flüsterton gleich mal das Mittagessen für die gesamte Woche – und ich hätte mich am liebsten gleich zum Essen eingeladen. Die Frau, die mit kniehohen, olivgrünen Gummistiefeln das Wartezimmer betritt, gibt mir dagegen Rätsel auf. Zwar regnet es an diesem Morgen ein wenig, aber in einer entschieden städtischen Umgebung wie Stuttgart ist mit Schlammpfützen eher weniger zu rechnen. Vielleicht ein modisches Statement?

So gut ich mir auch mit der Menschenbeobachtung die Zeit vertrieben habe, so froh bin ich, als ich nach eineinhalb Stunden das Wartezimmer endlich verlassen kann.