Tom Bartels kommentierte das 0:6-Debakel des DFB-Teams für die ARD. Foto: imago images/CHAI

Das 0:6-Debakel von Sevilla wirft sehr viele Fragen auf. Tom Bartels hat das epochale Spiel live für die ARD kommentiert – und äußert im Gespräch mit unserer Redaktion Kritik am DFB.

Stuttgart - Tom Bartels hat in seiner Reporter-Laufbahn zahlreiche unvergessene Spiele der deutschen Fußballgeschichte kommentiert. Zu großen Triumphen wie dem WM-Finalsieg von Rio 2014 gesellt sich nun mit dem 0:6 in der Nations League gegen Spanien ein historisches Debakel. Im Gespräch mit unserer Redaktion lässt der 55-Jährige die Schmach von Sevilla Revue passieren.

 Tom Bartels, Sie haben das 0:6 von Sevilla für die ARD kommentiert. Zu welchem Zeitpunkt des Spiels wurde Ihnen klar, dass es für das DFB-Team ein solches Debakel werden würde?

Dass es ein Debakel werden könnte, habe ich etwa fünf Minuten nach der Halbzeit geahnt. Ich habe mit einer Reaktion gerechnet nach dem 0:3 zur Pause, allerdings war davon ab Wiederanpfiff nichts zu sehen. Da die Spanier in ihrer Intensität nicht nachgelassen haben, kam es zu dieser historischen Niederlage.

 Während der Übertragung baten Sie die Zuschauer mehrfach um Entschuldigung für etwaige Redundanzen. Wie schwierig ist es, derlei Auflösungserscheinungen für ein Millionenpublikum live einzuordnen?

Es ist die Aufgabe des Reporters einzuordnen, was passiert. Das Spiel war derart einseitig, dass schon früh eine kritische Analyse erforderlich wurde. Keine eigenen Angriffe zu Ende gespielt, keine Torchancen, Standards schlecht verteidigt, keine Körpersprache. Wenn sich das dann über 90 Minuten wiederholt, wird es schwierig. Ehrlich gesagt habe ich mit einem solchen Auftritt nicht gerechnet.

 Was ist Ihrer Meinung nach zwischen Rio 2014 und Sevilla 2020 beim DFB-Team schiefgelaufen?

Es schien alles lange auf einem guten Weg. Die EM 2016 war aus meiner Sicht mit dem Halbfinale und einem kaum veränderten Kader noch in Ordnung, der Confed-Cup-Sieg 2017 mit einem jungen Team ein überraschend starker Auftritt. Danach ist offensichtlich der Übergang von den Weltmeistern 2014 in die Zukunft verschleppt und teilweise verschlafen worden. Nach der in allen Belangen enttäuschenden WM 2018 erfolgte dann der extrem schlecht kommunizierte Verzicht auf Hummels, Boateng und Müller. Vor allem die Art und Weise hat bis heute für fortwährende Zweifel am Bundestrainer gesorgt. Es ist sicher nicht alles falsch gewesen in den letzten Monaten. Es ist allerdings bis heute nicht gelungen, eine funktionierende Achse zu installieren. Und wenn sich dann die Mannschaft so präsentiert wie gegen Spanien, sind wir fast wieder beim Ausgangspunkt – der Situation nach der WM 2018.

Auch Sie erwähnten während der Übertragung die zahlreichen Rufe nach einer Rückkehr von Spielern wie Müller, Hummels oder Boateng. Wie sehen Sie diese Debatte?

Der Debatte muss sich der DFB stellen. Auch wenn mit Kimmich der vielleicht wichtigste Spieler gefehlt hat – Fakt ist: Es wird auf dem Platz viel zu wenig kommuniziert. Das schreit förmlich danach, einen Thomas Müller in seiner augenblicklichen Verfassung zumindest bis zur EM zurückzuholen. Dass zumindest ein weiterer Innenverteidiger auf Topniveau dem Kader gut tun würde, haben wir alle in Sevilla auch gesehen.

Die Einschaltquoten bei Länderspielen sind zuletzt rückläufig, vor Corona waren auch die Stadien teils nicht ausverkauft. Droht der DFB seine Fans endgültig zu verlieren?

Das glaube ich nicht. Klar ist aber auch, dass der Fan sehr genau unterscheiden kann, wann es um etwas geht und wann nicht. Wenn wie gegen Tschechien kein Spieler der besten Elf auf dem Platz steht, schalten eben deutlich weniger Menschen ein. Dass keine Zuschauer im Stadion sind, nimmt dem Fußball viel von dem, was ihn für viele so besonders macht. Keine Emotionen, kein Drama, kein Einfluss von den Tribünen, keine Fankultur. Dazu hat der DFB reichlich Vertrauen verspielt in der Vergangenheit. Ich hoffe sehr darauf, dass es Präsident Fritz Keller gelingt, den gesamten Verband inklusive der Nationalmannschaft wieder transparenter, nahbarer, bodenständiger und auch moderner zu machen. Dazu gehört übrigens auch, die Kommunikation zu verbessern, schneller zu werden – und zum Beispiel für eine WM-Analyse nicht wochenlang zu brauchen.