„Über Sex sprechen“ ist eine sehenswerte Dokumentation mit klugen Sachverständigen und vielen zeitgeschichtlichen Ausschnitten über hundert Jahre Aufklärungsarbeit in Deutschland.
Darüber spricht man nicht: Kaum ein Thema war lange Zeit derart präsent in den Köpfen und dennoch so tabu wie die Sexualität. In ihrer sehenswerten Dokumentation befassen sich Ina Kessebohm und Nadine Neumann mit den verschiedenen Etappen, die die Aufklärungsarbeit während der letzten hundert Jahre in Deutschland durchlaufen hat. Dabei zeigt sich, dass die Faktenvermittlung im Zweifelsfall nach wie vor eher lustfeindlich ist; vor allem, wenn es um die weibliche Lust geht. Im Vordergrund stehen die Entstehung des Lebens oder Empfängnisverhütung, doch die Wissensvermittlung konzentriert sich auf anatomische Vorgänge.
Sinn und Zweck dieses 45 Minuten langen Streifzugs durch die Geschichte der Sexualität sind jedoch keine konkreten Appelle, selbst wenn die Dokumentation diverse Denkanstöße gibt. Sollte zum Beispiel sexuelle Aufklärung Sache der Eltern oder der Schule sein? Und inwieweit darf sich der Staat in diese Thematik überhaupt einmischen?
Aids brachte einen Rückschlag
Aktuell gibt es zwei gegenläufige Strömungen: hier die immer buntere Regenbogenwelt der sexuellen Vielfalt, dort die Gegenbewegung eines zunehmenden Konservatismus, der Enthaltsamkeit vor der Ehe predigt und alles ablehnt, was von der bürgerlichen Norm abweicht. Schon Homosexualität ist in diesen Kreisen verpönt, und selbstredend soll im Schulunterricht nicht auch noch propagiert werden, dass Jungen oder Mädchen womöglich im falschen Körper zur Welt gekommen sind. Mit spürbarem Bedauern stellen die durch diverse kluge Sachverständige aus Bereichen wie Kulturgeschichte, Sexualwissenschaft oder Geschlechterforschung unterstützten Autorinnen fest, dass die Gesellschaft schon mal viel weiter war. Die Freizügigkeit der 70er Jahre erfuhr jedoch spätestens Ende der 80er durch Aids einen erheblichen Rückschlag. Nun wurde konsequente Treue als wirksamster Schutz vor der lange Zeit rätselhaften Krankheit propagiert. Die vermeintliche „Seuche“ bot zudem eine offenbar willkommene Gelegenheit, männliche Homosexuelle zu diskriminieren.
Wie bei ihrer vor gut einem Jahr ausgestrahlten zweiteiligen Arte-Dokumentation „Let’s talk about sex“, bieten Kessebohm und Neumann ein buntes Potpourri, das nun allerdings strukturierter wirkt. Aufgrund der jetzt nicht mal halb so langen Sendezeit werden viele Aspekte jedoch nur angerissen. Am interessantesten aus Sicht der sogenannten „Boomer“-Generation ist der Rückblick auf die 60er und 70er Jahre, als Beate Uhse zur Aufklärerin der Nation wurde. Der auf Veranlassung des Gesundheitsministeriums gedrehte Dokumentarfilm „Helga – Vom Werden des menschlichen Lebens“ (1967) konfrontierte die Deutschen unter anderem mit Bildern einer Geburt, die ja bei aller Freude über das Wunder des Lebens kein schöner Anblick ist.
Kolles berühmter Aufklärungsfilm
Ein Jahr später informierte Oswalt Kolle mit seinem Aufklärungsfilm „Das Wunder der Liebe“ ein Millionenpublikum über die in vielen Ehen zu kurz kommenden weiblichen Bedürfnisse. Dank der gesellschaftlichen Umwälzungen durch die „68er“ drängte auch die Schülerschaft auf mehr Mitbestimmung und erreichte unter anderem die Einführung von Sexualkundeunterricht. Was sie wirklich über Sex wissen wollten, erfuhren sie jedoch vor allem von Dr. Sommer in der „Bravo“. Bei der Sexualaufklärung stehen sich fortschrittliche und konservative Bewegungen seit jeher unversöhnlich gegenüber: Je stärker sich nach Einführung der Antibabypille progressive Lehrkräfte für eine angemessene Sexualerziehung einsetzten, umso vehementer waren Ende der 70er Jahre die Proteste gegen solche „neuheidnisch-sozialistischen“ Bestrebungen. Ein ähnlicher Trend ist heute wieder zu beobachten, wenn reaktionäre Kreise vor der „Zerstörung der Kernfamilie“ und vor der „Abschaffung der natürlichen Geschlechter“ warnen.
Über Sex sprechen: 5. August, 23.35 Uhr, ARD