Die Neue Staatsgalerie wurde 1984 eröffnet. Foto: Stadtkind/Kevin Wetzler

In Pandemiezeiten ist Spazierengehen wie Urlaub fürs Gehirn. Umso besser, wenn man dabei Schönes entdecken kann. Von postmodernen Träumen und dem Ersten seiner Art: Wir stellen euch eine Route vor, die euer Wissen um die Architektur Stuttgarts erweitert.

Stuttgart - Los geht unser Architektur-Spaziergang am Killesberg: Wer die Weissenhofsiedlung zum ersten Mal sieht, fragt sich: „ist das neu?“ Nein, ist es nicht – erbaut wurde sie in den 1920er Jahren. Als erste Siedlung, die in diesem Stil gebaut wurde, hat man sie mittlerweile sogar zum Weltkulturerbe ernannt. In nur knapp vier Monaten wurden 33 kubische Flachdachhäuser gebaut, die den Kern der Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ ausmachten – unter den Architekten waren bekannte Größen wie Walter Gropius, Le Corbusier, Peter Behrens und die Brüder Max und Bruno Taut.

Ein UNESCO-Weltkulturerbe am Killesberg

Während des zweiten Weltkriegs wurden zehn von 21 Häusern komplett zerstört. Von 1981 bis 1987 sanierte die Stadt Stuttgart elf Häuser und versetzte sie in ihren ursprünglichen Zustand. Durch die Siedlung führt ein Leitsystem, das Auskunft über die privat bewohnten und deshalb nicht zugänglichen Häuser gibt. Weitere Infos findet ihr auf der Homepage des Weissenhofmuseums.

Symmetrie und klare Ordnung am Mailänder Platz

Die Stuttgarter Stadtbibliothek am Mailänder Platz ist die nächste Station unserer Reise. Eun Young Yi erschuf mit der im Oktober 2011 eröffneten Bibliothek einen Monolith im Herzen der Stadt. Der simple Kubus überzeugt in seiner Formsprache mit seiner Symmetrie und seiner klaren Ordnung. Das Herzstück der Bibliothek selbst ist ein komplett leerer Raum, dessen Ausmaße an eine Kathedrale erinnern mögen. Die Freitreppen im Innern vermitteln zudem ein Gefühl der „fließenden Wege“. Summa Summarum bietet die Stadtbibliothek dem architekturinteressierten Betrachter beeindruckende Formen. In den Abendstunden präsentiert sich die Stadtbibliothek in einem illuminierten Gewand.

Postmoderne Traumwelt der 1970er Jahre

Am Hauptbahnhof vorbei geht’s zur Neuen Staatsgalerie Stuttgart, die auf den ersten Blick aussieht wie eine Traumwelt der 1970er Jahre. Der postmoderne Erweiterungsbau des Architekten James Stirling wurde 1984 eröffnet und gilt als Meisterwerk dieser Stilrichtung in Deutschland. Formen und Farben sind anders als alles, was man damals kannte. Es lohnt sich – auch pandemiebedingt ohne Ausstellungen – das Gelände mit der (Smartphone-) Kamera zu erkunden.

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Moderne Architektur am Schlossplatz

Das im Jahr 2005 eröffnete Kunstmuseum in Stuttgart wurde nach einem Entwurf des Berliner Architekturbüros Hascher und Jehle erbaut. Während der Bau tagsüber als gläserner Würfel die umliegende Bebauung reflektiert, lassen die Abendstunden die Spiegelung vergehen, um die Kalksteinplatten im Innern sichtbar zu machen. Neben dem altehrwürdigen Königsbau wirkt das Kunstmuseum aus modernen Materialien wie Glas und Stahl dennoch nicht wie ein Fremdkörper. Es fügt sich in das architektonische Ensemble des Schlossplatzes ein, das eine Reise vom Mittelalter bis in die Moderne beschreibt.

Ein Genuss mit allen Sinnen

Wo bis 1864 noch ein Gemüsemarkt gestanden hatte, wurde von 1911 bis 1914 nach den Entwürfen des in Tübingen geborenen Architekten Prof. Martin Elsässer eine Markthalle erbaut. Noch heute hat sie ihren eigenen Charme. Die Markhtalle ist eine der prominentesten Vertreterinnen des Jugendstils in Stuttgart: Die schönen Fresken von Franz Heinrich Gref und Gustav Rümelin verbinden sich eindrucksvoll mit den geschwungenen Fassadenplastiken von Josef Zeitler und Jakob Brüllmann. Überdacht wird die Markthalle dabei von einer Stahl- und Glaskonstruktion. Sie gilt seit Jahrzehnten als Ort der kulinarischen Köstlichkeiten und ist aus dem Stadtbild nicht mehr weg zu denken.

Marmor und Glas

Die Calwer-Passage am Rotebühlplatz zog ihre Besucher schon immer in den Bann der 1920er Jahre. Der Marmorboden und ein Torbogen aus Glas vermitteln das Gefühl, in einer anderen Zeit gelandet zu sein. Doch mit dem Glanz der 1920er Jahre hat die Passage tatsächlich nichts zu tun. Sie wurde erst 1978 erbaut. Viele Deutsche Städte nahmen sich die Calwer-Passage in ihren Passagenbauten zum Vorbild. Lange Zeit stand die Calwer-Passage in der öffentlichen Wahrnehmung für gehobenes Etablissement, Marmor und Glas, später für die alternative „Shopping-Mall“ Fluxus. Kein Wunder also, dass die unter Denkmalschutz gestellte Passage bei den derzeit laufenden Umbauarbeiten verschont wird.

Neue Sachlichkeit in der Innenstadt

Der Tagblatt-Turm, nur ein paar Gehminuten entfernt, ragt als Wahrzeichen aus der Innenstadt empor. Was die Wenigsten wissen: Auch hier wurde 1928 Architekturgeschichte geschrieben. Er wurde weltweit zum Sinnbild für den Stil der neuen Sachlichkeit, und machte die Stuttgarter Architekturszene berühmt. Zudem ist er das erste Hochhaus der Welt, das in Sichtbetonbauweise erbaut wurde.

Der Erste seiner Art

Wer den Weg zum Fernsehturm erklimmen will, dem sei gesagt, dass der Zutritt in das Innere des Turms derzeit coronabedingt untersagt ist. Doch selbst, wenn das Café und die Aussichtsplattform nicht erreichbar sind, die Stuttgarter „Betonnadel“ hat uns den ganzen Weg über beobachtet. Das Stuttgarter Wahrzeichen wurde 1956 eröffnet und läutete eine neue Ära des Turmbaus ein. Mit einer schlanken Linie und ein paar gestalterischen Tricks wurde aus dem Fernsehturm ein Vorbild für Sendetürme in der ganzen Welt, denn er war der erste seiner Art – nämlich aus Stahlbeton.