Nicht nur der TÜV, auch die Dekra und andere Organisationen erledigen die Hauptuntersuchung. Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Darf man den Termin für die Hauptuntersuchung überziehen, oder nicht. Autofahrer sind wegen einer Ankündigung von Bundesverkehrsminister Scheuer vom März offenbar verwirrt. Im Juli stieg die Zahl der Strafzettel rapide an.

Stuttgart - Eine Schonfrist für Autofahrer beim TÜV hatte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) Ende März wegen der Corona-Hochphase in den Medien versprochen. „Ist alles kein Thema“, sagte der Minister der „Bild“. Es war dann aber der TÜV-Süd, der in einem Statement „Irritationen“ ausräumen wollte und genauer erklärte, was das Bundesverkehrsministerium eigentlich wollte. Es habe den Polizeibehörden die „vorübergehende Nichtahndung“ von zwei Tatbeständen empfohlen: die Vorführungsfrist zur Hauptuntersuchung (HU) bis zu zwei Monaten überschritten (kostet ohnehin kein Verwarnungsgeld) sowie die Frist von zwei bis vier Monaten überschritten (kostet).

Die Ansage von Scheuer wurde offenbar missverstanden

Hunderte von Autofahrern im Südwesten müssen die Aussage offenbar missverstanden haben. So auch Andreas L. aus Stuttgart, der mit seinem Familienauto im März zur Überprüfung hätte gehen müssen, dies im Lichte von Scheuers Zusage aber vertagte: „Ich war nicht sicher, ab wann diese Regelung nun in Kraft tritt und wie lange sie eigentlich gilt.“ Im Juli fand der Autobesitzer L. ein Knöllchen an der Windschutzscheibe, das ihn abrupt aufklärte: Er habe es unterlassen, das Fahrzeug zur fälligen Hauptuntersuchung vorzuführen, der Termin sei „um mehr als zwei bis zu vier Monaten überschritten“, das ist eine Ordnungswidrigkeit und kostete Andreas L. 15 Euro Verwarnungsgeld. Später zahlte er bei der Dekra, wo er die HU machen ließ, noch 15 Euro extra, als Zulage für den „erhöhten Verwaltungsaufwand“ wegen des Zuspätkommens.

Eine Anfrage bei fünf größeren Städten in Baden-Württemberg hat ergeben, dass jedes Ordnungsamt die Schonfrist anders handhabte oder sie zum Teil gar nicht gewährte. So teilte die Stadt Stuttgart mit, man habe die „Empfehlung“ des Bundesverkehrsministers einer Pressemitteilung entnommen und die Schonfrist für diejenigen, die den Termin bis zu vier Monaten überschritten hatten, dann bis 1. Juni gewährt. Laut der Statistik der Bußgeldstelle in Stuttgart stieg die Zahl der Knöllchen wegen säumiger Termine danach rapide an. Lag sie im April bei 237 und im Mai bei 429 – bestraft wurden da nur Versäumnisse von mehr als vier Monaten – kletterte sie im Juni auf 1356 und lag im Juli bei 919. Es seien ja recht bald wieder Hauptuntersuchungen „ohne Terminschwierigkeiten“ möglich gewesen“, so ein Sprecher der Stadt Stuttgart. Daher würden alle Bummler seit Juni wieder „wie bisher beanstandet und verfolgt“.

In Mannheim gab es keine Schonfrist

Auch in Ulm sah man von Bußgeldern ab, hier lief die Schonfrist aber bis 4. Juli. Ähnlich das Vorgehen in Karlsruhe, wo die Zahl der Verfahren wegen HU-Vergehen sich seit März halbierte: Im Juni gab es noch 183 Verfahren, im Juli kletterte die Zahl der eingeleiteten Bußgeldverfahren auf 278. Die Tolerierung hält die Stadt Karlsruhe im Rückblick für sinnvoll, ein Sprecher bemerkte aber: „Jedoch lag der Stadt kein offizielles Schreiben zu dieser Weisung des Ministers vor. Zum Vorgehen und der Zeitspanne der geplanten Tolerierung wäre eine umfangreichere Kommunikation wünschenswert gewesen.“

Auch in Mannheim sieht man dies als entscheidenden Punkt: Weil sie „gar keine Kenntnis von einer Handlungsempfehlung des zuständigen Ministeriums des Bundes oder des Landes“ gehabt habe, habe die Bußgeldstelle ihre Praxis auch nicht geändert, teilt die Stadt mit. Bei den Parkerleichterungen für ambulante Pflegekräfte oder der befristeten Befreiung vom Sonntagsfahrverbot zur Vermeidung von Versorgungsengpässen sei das anders gewesen. Tatsache ist, dass die Ordnungsämter in der Corona-Hochphase beispielsweise in Freiburg beim Parkverkehr „nur schwerwiegende Verstöße“ aufgenommen haben. In der Universitätsstadt schnellten die HU-Knöllchen im Juli auf 218 hoch, im Vormonat waren es nur 67 gewesen.

Das Verkehrsministerium in Stuttgart sah keinen Handlungsbedarf

Eine Sprecherin des Bundesverkehrsministerium sagt auf Anfrage, dass man die TÜV-Toleranz gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium als „geeignetes Mittel“ empfunden habe, um die Corona-Krise in diesem Sektor zu meistern. Von Beschwerden sei ihr nichts bekannt. Einen Überblick, welche Länder dem Rat gefolgt seien, habe das Ministerium nicht: „Die Länder sind uns da keinen Bericht schuldig.“ Aber auch im Verkehrsministerium in Stuttgart sieht man keine Zuständigkeit. Scheuers Empfehlung sei in Stuttgart bekannt gewesen, da es aber keine „wesentlichen Einschränkungen der Prüfkapazitäten in Baden-Württemberg“ gegeben habe, sei es nicht notwendig gewesen, sie umzusetzen: „Es ist jedoch bekannt, dass die Ordnungsämter durchaus nach der Empfehlung gehandelt haben und eine Ahndung dieser Tatbestände zeitweise ausgesetzt haben“, sagte ein Sprecher.

Ein Experte einer Organisation, die Hauptuntersuchungen anbietet, sagt, dass der Verkehrsminister offenbar „ins Blaue hinein“ seine Ankündigung gemacht habe. „Wenn es in der Schonzeit ein Großereignis beispielsweise einen Unfall mit Tanklastzug und einem Millionenschaden gegeben hätte, wäre sicher ein langer Rechtsstreit entstanden.“ Jedenfalls, wenn der Lastzug ein technisches Problem gehabt hätte und mit abgelaufenem TÜV gefahren wäre.

Ähnlich sieht es Michael Müller-Görnert vom Verkehrsclub Deutschland VCD: „Die Verkehrssicherheit ist ein hohes Gut, daher darf nicht mal so eben die Frist für eine Hauptuntersuchung verlängert werden. Was wäre, wenn ein Unfall mit einem nicht verkehrstauglichen Fahrzeug passiert?“ Es handele sich hier um eine Aktion des Bundesverkehrsministers Scheuer, der nach „Gutsherrenart“ mal so eben Gesetze aushebele, wie es ihm passe. Nur wenn eine TÜV-Stelle tatsächlich über einen längeren Zeitpunkt geschlossen hatte, sollte kulant umgegangen und kein Ordnungsgeld erhoben werden. Verständnis für den Bundesverkehrsminister äußert der ADAC: Es sei ja in der Hochphase des Lockdown darum gegangen, unnötige Wege, auch zur Werkstatt, zu vermeiden, daher Scheuers Empfehlung. „Aus Sicht des ADAC war das vernünftig. Grundsätzlich sind die Fristen für die Hauptuntersuchung bereits recht großzügig geregelt.“