Afghanen nach der Ankunft mit einer Bundeswehr-Maschine in Usbekistan. Zarah Farashs Cousin hätte ausfliegen dürfen. Doch dann brach die Luftbrücke zusammen. Foto: dpa/Tessensohn

Eine Afghanin, die in Stuttgart lebt, bangt um ihre Verwandten in Kabul und besonders um ihren Cousin, der für eine deutsche Organisation gearbeitet hat. Wie es weitergehen soll, weiß niemand.

Stuttgart - Seit dem 15. August herrscht die nackte Angst, und mit jedem Tag schwindet die Hoffnung auf Rettung. Seit jenem Sonntag bangt Zarah Farash um das Leben ihrer Verwandten und Freunde in Afghanistan. Ihr Cousin rief morgens aus der Hauptstadt an: „Sie haben Kabul!“

Farash sagt, anfangs hätten sie gehofft, solange der Präsident im Land ist, würden die Taliban im Zaum gehalten. „Doch dann ist er abgehauen mit Millionen von Dollar.“ Ihr Cousin sollte mit einem der Evakuierungsflüge nach Deutschland flüchten. Er hatte für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet. Man sagte ihm dort, er stehe auf der Liste, dürfe ausfliegen, solle auf einen Anruf warten und sich erst dann zum Flughafen Kabul begeben. Am 31. August brach die Luftbrücke endgültig zusammen. Niemand hatte bis dahin bei ihm angerufen.

Studierte werden Kämpfer

Farash selbst ist bereits Ende 2014 mit ihrer Familie aus Afghanistan geflohen. Sie war 16 Jahre alt, als sie die beschwerliche, zwei Monate dauernde Reise antrat, die über Iran, Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn nach Stuttgart führte. Weite Strecken musste sie zu Fuß bewältigen. Heute macht sie eine Ausbildung zur Industriekauffrau.

Die Sorge um die geliebten Menschen, die noch in Afghanistan sind, lässt die 22-Jährige verzweifeln. „Das Schlimmste ist, dass ich überhaupt nichts tun kann.“ Sie gehe auf Demos, mobilisiere Freunde, aber damit rette sie keinen Menschen. Sie telefoniert viel in die Heimat – solange das noch geht: „Wenn das Internet zusammenbricht oder Afghanistan keinen Strom mehr aus dem Ausland geliefert bekommt, ist es ganz aus.“

Die Menschen lebten in fürchterlicher Angst und verschanzten sich zu Hause – Frauen und Mädchen sowieso, erzählt Farash. Es seien aber auch schon Taliban in die Häuser gekommen und hätten die Frauen einfach mitgenommen. Sie hat Angst um ihre Cousine. „Aber auch mein Cousin geht nicht mehr aus dem Haus.“ Viele seiner Freunde aus dem Studium seien zu den Taliban übergelaufen. Er befürchte, dass ihn einer von ihnen denunzieren könnte, weil er für eine westliche Organisation gearbeitet hat.

Was bewegt diese studierten Männer, sich plötzlich auf die Seite der fundamentalistischen Kämpfer zu schlagen? Ist das Opportunismus? Eine Art Selbstschutz? „Wir haben über diese Frage lange diskutiert in der Familie“, sagt Farash. „Aber diese Leute sind schon richtig überzeugte Taliban geworden. Die finden es richtig, dass Frauen keine Rechte haben und unterdrückt werden.“

Keiner traut den Taliban

Ein Onkel hat ihr Videos von seiner Straße im Zentrum von Kabul geschickt: Es zeigt die sonst belebte Einkaufsmeile menschenleer. „Er wollte mich damit beruhigen, mir sagen: Schau, hier ist alles ganz friedlich. Aber mir hat das nur Angst gemacht.“

In Kabul habe man schon zuvor in latenter Furcht vor Attentaten und Übergriffen gelebt. Einmal, sagt Farash, gab es einen Anschlag auf ihrem Schulweg. „Die Bilder werde ich nie vergessen: eine Mauer voller Blut, an der Haare und Haut klebten, und Körperteile, die herumlagen.“ Mit den Taliban in der Stadt ist den Menschen die Angst noch dichter auf den Leib gerückt. „Keiner traut denen.“ Dass sich die fundamentalistischen Machthaber derzeit fast diplomatisch geben, hält Farash für eine Täuschung: „Sobald sie alle Macht haben, zeigen sie ihr wahres Gesicht!“ Das sei schon in den 90er Jahren so gewesen. Ihre Mutter habe erzählt: „Man sagte den Frauen damals, sie sollten ruhig weiter zur Schule und zur Arbeit gehen. Aber nach zwei Monaten richteten sie auf dem Sportplatz in ihrem Dorf ein Mädchen hin, weil es zur Schule ging – zur Abschreckung.“

Es sieht finster aus für Afghanistan und besonders für die Mädchen und Frauen dort, sagt Farash mit brüchiger Stimme. Dass sich deutsche Freunde gelegentlich beklagen über das Leben in Deutschland, kann sie nicht verstehen: „Es ist ein großes Glück, wenn man hier leben darf.“