Das Krematorium des Konzentrationslager Stutthof Foto: imago images/ZUMA Wire/Damian Klamka

Eine 96-jährige KZ-Sekretärin ist wegen der Beihilfe zum Mord in mehr als 10 000 Fällen angeklagt. In Ludwigsburg werden Fälle wie diese untersucht. Wie sinnvoll ist eine Anklage?

Stuttgart - Irmgard F. muss sich im Alter von 96 Jahren vor Gericht verantworten, weil sie als Sekretärin im Konzentrationslager (KZ) Stutthof den dortigen Massenmord unterstützt haben soll. Material dazu sammelte die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen Irmgard F. ein.

Im Interview erklärt Behördenleiter und Oberstaatsanwalt Thomas Will, ob Prozesse gegen ehemalige KZ-Angestellte heutzutage überhaupt noch Sinn ergeben – zum aktuellen Verfahren kann er sich aber nicht äußern.

Herr Will, Angestellte in KZs, wie Köche oder Sekretäre, behaupten häufig, sie hätten nichts von Massenvernichtungen gewusst. Wie wahrscheinlich ist das?

Da muss jeder Fall einzeln betrachtet werden. Man kann nicht ungeprüft sagen, dass jeder alles mitbekommen hat. Aber wir wissen etwa, dass die Lager nicht endlos groß waren und Leichenberge oft auf Wagen aus den Konzentrationslagern geschafft wurden.

Die Angeklagten sind meistens schon sehr alt. Wie oft führen solche Prozesse auch zu Verurteilungen?

Seit 2011 haben wir 139 Verfahren zu KZs abgegeben. Seitdem gab es drei Urteile. Eingestellt werden Verfahren immer wieder, weil die Angeklagten verstorben oder verhandlungsunfähig sind.

Von Leserinnen und Lesern heißt es häufig, man solle die alten Leute in Ruhe lassen. Ist das für Sie keine Option?

Seit Ende der 1970er Jahre verjährt Mord nicht mehr. Das heißt, wir müssen diese Fälle vor Gericht bringen, so die Angeklagten verhandlungsfähig sind.

Aber hat ein Urteil überhaupt einen Zweck? Die Täterinnen und Täter sind in ihrem Alter kaum in der Lage, Wiedergutmachung zu leisten.

Aus positiver Sicht bekommt die Gesellschaft dadurch die Gewissheit, dass solche Taten nicht vergessen werden. Auch von der Opferseite hören wir immer wieder, dass sie die Verfahren wichtig finden – unabhängig davon, ob es zu einem Urteil kommt oder nicht. Faktisch wird die Vollstreckung aber immer unwahrscheinlicher.

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Zur Person

Ludwigsburg
 Thomas Will ist Jurist und seit Oktober 2020 Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg.

Vorgänger
 Wills Vorgänger war der Bundesrichter Jens Rommel.