Bischof Frank Otfried July: Das Bekenntnis als Erbe und Auftrag Foto: Lichtgut/Julian Rettig

In der Markuskirche ist mit einem Gedenkgottesdienst an das Stuttgarter Schuldbekenntnis erinnert worden, das dort vor 75 Jahren formuliert wurde. Was bedeutet es heute?

Stuttgart - Vor beiden Zugängen zur Markuskirche stehen kleine Menschentrauben. Wer nicht für den Gottesdienst am Sonntagvormittag angemeldet ist, muss warten und hoffen, doch noch einen der vorhandenen gut 100 Plätze zu ergattern. Anlass für den Andrang ist der Jahrestag des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, das Ratsmitglieder der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) am 18. und 19. Oktober 1945 anlässlich eines Treffens mit Vertretern des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) in der Markuskirche formulierten. 75 Jahre später hat das Eingeständnis, sich in der Zeit des Nationalsozialismus mitschuldig gemacht zu haben, seinen festen Platz unter den wichtigsten Dokumenten in der Geschichte der evangelischen Kirche.

Blinde Flecken in dem Schuldbekenntnis

Das heißt nicht, dass der Text von damals unantastbar wäre. 1945 habe dieser Unmut ausgelöst, weil viele nichts von Schuld hätten hören wollen, ordnet Landesbischof Frank Otfried July das EKD-Zeugnis zu Beginn des Gedenkgottesdienstes ein. Heute sehe man die blinden Flecken in den Formulierungen: „Es findet sich kein Wort zur Verfolgung und Vernichtung des Judentums in Europa, kein Wort zur Verfolgung der Sinti und Roma oder anderer Minderheiten.“ Eine Verbreitung der Stuttgarter Erklärung im großen Stil sei zunächst wohl auch nicht vorgesehen gewesen, und ein wirkliches Bewusstsein für das Unrecht habe sich erst in den folgenden Jahrzehnten herausgebildet. Dennoch, hebt July hervor, sei das Bekenntnis sowohl ein wichtiges Erbe als auch ein Auftrag. Heute gelte es nach wie vor, für die Würde jedes Menschen einzutreten.

Die Erinnerung gehört zur „DNA der evangelischen Kirche“

Der EKD-Ratsvorsitzende und Landesbischof in Bayern, Heinrich Bedford-Strohm, betont in seiner Predigt, die Verfasser der Schulderklärung, unter ihnen Theophil Wurm, Martin Niemöller und der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann, hätten „mehr als ein liturgisches Mea culpa“ im Sinn gehabt. Sie hätten angesichts der zurückliegenden Abgründe des Dritten Reichs stellvertretend für viele eine „existenzielle Dunkelheit“ zum Ausdruck gebracht. Nicht zuletzt gestanden sie in ihrem Text ein, nicht glaubensfest genug gewesen zu sein. „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“, zitiert Bedford-Strohm.

Er warnt vor Tendenzen, die Geschichte zu verdrängen. 75 Jahre seien angesichts der NS-Vergangenheit nur ein Windhauch. Die Erinnerung an die Schuld und die Einsicht in die große Verantwortung, die damit einhergehe, gehörten seit 1945 zur „DNA der evangelischen Kirche“. Bezug nehmend auf den Predigttext, Epheser 4, 22–32, hebt der Landesbischof von Bayern aber auch die Möglichkeit hervor, „den alten Menschen abzulegen“ und neu anzufangen. Gott habe die Menschheit nicht fallen lassen, stellt er klar. 75 Jahre nach der Stuttgarter Schulderklärung sei die Schuld nicht vergessen, doch es sei „etwas Neues geworden. Durch Gottes Gnade. Und durch menschliche Versöhnungsbereitschaft.“

Anderen ein Beispiel geben

Ioan Sauca, Interimsgeneralsekretär beim ÖRK, hatte aufgrund der Corona-bedingten Einschränkungen nicht persönlich aus Genf anreisen können. Daher verliest Benjamin Simon, der Beauftragte für Kirchenbeziehungen beim ÖRK, ein Grußwort, das ebenfalls die Versöhnung in den Mittelpunkt stellt. Was 1945 in Stuttgart geschehen sei, habe dazu beigetragen, dass heute zwischen Karlsruhe und Straßburg eine Brücke des Friedens Deutschland und Frankreich verbinde, formulierte Sauca. „Wir sind dankbar, dass in der Mitte Europas Frieden herrscht.“

Bedford-Strohm schließt mit einem Appell: Christen sollten es als ihre Aufgabe sehen, die Zivilgesellschaft zusammenzubringen. Das Salz der Erde zu sein bedeute, Zeugnis zu geben und anderen ein Beispiel zu geben.