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Die massive Wertvernichtung bei der T-Aktie sitzt etlichen Anlegern immer noch in den Knochen.„Die Anleger in Schweden müssen Geld verdient haben, sonst wären sie nicht mehr am Markt.“

Von Michael Paproth

Esslingen - Die Europäische Zentralbank (EZB) hat mit ihrer Nullzinspolitik den Preis für Geld abgeschafft, was heißt: Mit herkömmlichen Zinsprodukten ist nichts mehr zu holen. So stellt sich die Frage: wohin mit dem gesparten Geld? Hier kommt der Aktienmarkt ins Spiel. Wenngleich EZB-Präsident Mario Draghi mit seiner Geldpolitik sicherlich nicht dachte, die deutsche Aktienkultur zu fördern, tut er es indirekt. So groß ist der Anlagenotstand geworden, dass im Jahr 2015 wieder mehr Bundesbürger in Aktien und Aktienfonds investierten. Zum Jahresende sprach dann Stuttgarts Börsenchef Michael Völter schon von einer Rückkehr der Anleger. Ein dreiviertel Jahr später stellte er aber fest, dass diese Entwicklung nicht nachhaltiger Natur war. Sind die Deutschen tatsächlich ein Volk von Aktienmuffeln, wie es immer heißt?

Ja und nein. 2015 besaßen neun Millionen Menschen Aktien oder Anteile an Aktienfonds oder beides, das ist der höchste Stand seit 2012. Schauen wir aber weiter zurück, lässt sich festhalten: 2001 gab es in Deutschland fast 13 Millionen Aktionäre, die zu diesem Zeitpunkt allerdings schon vielfach auf Verlusten saßen. Zuvor - im März 2000 - war die Dotcom-Blase geplatzt. Der Neue Markt, eingerichtet nach dem Vorbild der US-Technologiebörse Nasdaq, wurde letztlich zu Grabe getragen und im Juni 2003 geschlossen. Unterwegs verlor auch die im Deutschen Aktienindex (Dax) notierte Aktie der Deutschen Telekom - in der Spitze kostete das Dividendenpapier einst mehr als 100 Euro - dramatisch an Wert. Heute notiert die Aktie etwas über 16 Euro. Der Ausgabekurs von 1996 lag bei 14,57 Euro. Diese massive Wertvernichtung sitzt etlichen Anlegern immer noch in den Knochen. War es doch gerade die T-Aktie gewesen, die die Republik zu einem Volk von Kleinanlegern machen sollte. In Umfragen hieß es damals, mehr als 50 Prozent der Bürger glaubten, an der Börse könne man reich werden. Es folgten die Crashs von 2008/2009 und 2011, die weitere tiefe Spuren hinterließen. So machten viele Kleinanleger die teure Erfahrung, den falschen Zeitpunkt für den Ein- oder Ausstieg am Aktienmarkt gewählt zu haben - und kehrten ihm den Rücken zu. Verständlich. Allerdings wäre es womöglich besser gewesen, sich weiter mit dem Kapitalmarkt zu beschäftigten - lernen, ihn besser zu verstehen, als sich enttäuscht abzuwenden. Anleger, die über zwanzig Jahre von 1996 bis 2015 in den Dax investierten, haben im Durchschnitt - trotz mitunter heftigem Auf und Ab - eine Jahresrendite von etwa acht Prozent erzielt.

Aus Sicht von Verhaltensökonomen sind jedoch viel weiter zurückliegende Gründe dafür verantwortlich, dass die Deutschen dem Kapitalmarkt gegenüber so skeptisch sind. Sie sagen, das Spar- und Anlageverhalten sei geprägt von der Hyperinflation des Jahres 1923 und der Währungsreform nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Erfahrungen, wie schnell Geld seinen Wert verlieren kann, hätten sich im kollektiven Gedächtnis fest verankert. Daraus sei ein enormes Sicherheitsbedürfnis entstanden, das bis heute wirkt und viele davon abhält, sich an der Börse zu engagieren. Kurzum: Aktien können so hochsteigen wie sie wollen, sie gelten als etwas Spekulatives - und werden deshalb gemieden. Hinzu kommt: Die Bürger in Deutschland haben sich im Gegensatz etwa zu den Amerikanern jahrelang auf die staatlichen Sicherungssysteme verlassen, anstatt einen eigenen Kapitalstock aufzubauen. Schließlich springt ja im Krankheitsfall oder bei Arbeitslosigkeit für eine bestimmte Zeit der Staat ein.

Gerade auf diesen Punkt weist der Bundesverband Investment und Asset Management hin. Die 1970 gegründete Interessenvertretung der Investmentbranche zählt 92 Mitglieder, die 2,6 Billionen Euro in Publikumsfonds, Spezialfonds und Vermögensverwaltungsmandaten verwalten. Der Verband hält die Risikoaversion der Deutschen schlicht für einen Mythos. Wären die Bundesbürger tatsächlich so risikoscheu, dann hätten sie wohl kaum am Neuen Markt gelistete Aktien gekauft oder ihr Geld bei unbekannten Banken in Island angelegt. Der Verband sieht den entscheidenden Unterschied zwischen den Ländern mit hohem und denen mit geringem Aktienbesitz in der Regulierung, und hier vor allem bei der staatlichen Förderung der Altersvorsorge. In Deutschland greife der Staat bei den Dividenden und Erträgen aus dem Verkauf von Aktien gleich mehrfach zu, während Zinsprodukte bessergestellt seien. Erschwerend hinzukämen Beratungsprotokolle, die speziell in der Wertpapierberatung tatsächlich sehr umfangreich sind. Die Interessenvertretung verweist zudem auf die USA, wo in den 90er-Jahren Pensionspläne für Investmentfonds eingeführt worden sind. Mehr als die Hälfte der Amerikaner besitzt nun Aktien. Ein anderes Beispiel ist Schweden. Dort existiert ein Mischsystem aus umlagefinanzierter staatlicher Rente, kapitalgedecktem Rentenkonto und betrieblicher Altersvorsorge. Dass Wertpapiere in Schweden ein selbstverständlicher Baustein der Geldanlage sind, zeigt eine Umfrage der Börse Stuttgart. Viele Skandinavier wurden während der Privatisierungsperiode in den 1980er- und 1990er-Jahren Aktionäre, ein Aktienbeteiligungsplan für Mitarbeiter unterstützte diesen Trend. So waren 2014 in Schweden 35 Prozent des Haushaltsvermögens in Aktien angelegt, in Deutschland lediglich 9,9 Prozent. Schwedische Anleger haben ein durchschnittliches Portfolio von 10 000 Euro, deutsche von 2000 Euro. „Die Anleger in Schweden müssen Geld verdient haben, sonst wären sie nicht mehr am Markt“, gibt Ralph Danielski, Geschäftsführer der Börse Stuttgart, zu bedenken. Der Bundesverband Investment und Asset Management weist zudem darauf hin, dass die Niederlande, Dänemark und Australien auch Länder seien, in denen das „kapitalmarktorientierte Sparen zu einer tragenden Säule der Altersvorsorge wurde“. Der Blick in die Vergangenheit zeigt: Wer mit einem langfristigen Zeithorizont in Aktien investiert hat und sich nicht durch die kurzzeitigen Schwankungen beirren ließ, der profitierte fast immer. Umso mehr, wenn die Investments breit über Länder und Branchen gestreut und zeitlich verteilt waren. Ob das so bleibt? Vieles spricht dafür. Doch schon der US-amerikanische Schriftsteller Mark Twain soll gespottet haben: „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“