Bodo Ramelow sieht fast 30 Jahre nach der Deutschen Einheit noch viele Missverständnisse im Verhältnis zwischen Ost und West. Foto: Elena Kaufmann - Elena Kaufmann

Der Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow (Die Linke), im Gespräch mit der Eßlinger Zeitung: Die Empörung in der Politik über die empörte AfD ist ihm als Reaktion zu wenig. Über AfD-Wähler sagt Ramelow: „Die Wähler haben ein Recht darauf, sich genauso auszudrücken, wie sie das möchten.“

Erfurt den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen richtet sich der Blick nach Thüringen, wo die Wähler am 27. Oktober an die Urnen gerufen sind. Bodo Ramelow will als einziger Ministerpräsident der Linken weiterregieren – und schließt auch eine Minderheitsregierung nicht aus.

Wie bewerten Sie die Wahlergebnisse in Sachsen und Brandenburg?
Ich finde es gut, dass wieder mehr Menschen zur Wahl gegangen sind. Eine steigende Wahlbeteiligung ist für mich ein Zeichen, dass die Demokratie von den Bürgerinnen und Bürgern getragen und gelebt wird. Für mich ist bemerkenswert, dass beide Ministerpräsidenten erneut den Regierungsauftrag erhalten haben. Das hat mich veranlasst, am Montagmorgen um sieben Uhr beiden zu gratulieren und zu sagen, dass sie den Beweis angetreten sind, dass Ministerpräsidenten, die sich ins Zeug legen, eine Mobilisierung auslösen können. Und das, obwohl es zahlreiche Voraussagen gab, dass keiner der beiden eine Chance hätte und der Osten unregierbar sei.

Gewinnerin ist aber die AfD. Wie ist sie zu den enormen Gewinnen gekommen?
Die AfD bietet nichts außer Empörung. Der Kitt, der die AfD zusammenhält, ist Empörung. Empörung über Frau Merkel, Empörung über das System, Empörung über die Altparteien. Es ist mir in dem Zusammenhang allerdings zu wenig, wenn die Antwort der anderen Parteien, auch meiner, im Wesentlichen darin besteht, ihrerseits empört zu sein, dass die AfD so einen Zulauf hat. Es wird viel zu viel über die AfD geredet und zu wenig über die Demokratie. Immer wieder liest man: Der Osten ist braun. Der Osten, das sind Nazis. Der Osten ist traurig und alles geht schief. Über die Leistungen der neuen Länder und der hier lebenden Menschen hingegen wird kaum gesprochen.

Was die gestiegene Wahlbeteiligung betrifft – mit diesen Federn kann sich die AfD doch schmücken?
Stimmt. Sie hat dafür gesorgt, dass die Polarisierung stärker geworden ist, sie hat dafür gesorgt, dass Wähler mobilisiert wurden. Da kann ich mich nicht hinterher über das Wahlverhalten beschweren. Ich habe auch keine Lust, Wähler-Beschimpfung zu betreiben. Die Wähler haben ein Recht darauf, sich genauso auszudrücken, wie sie das möchten.

Die AfD präsentiert sich im Osten auch gerne als Ost-Partei, also das, was Ihre Partei, die Linken, auch lange Zeit hervorhob. Ist sie das?
Eine Partei, die wie die AfD auf die europäischen Fördergelder für den Osten verzichten möchte, hat überhaupt keine Ostkompetenz. Wenn wir die europäischen Fördergelder verlieren würden, hätten wir ein richtig großes Problem. Das würden die Menschen merken. Etwa, wenn der Dorfplatz nicht mehr gepflastert wird, weil die Mittel des Europäischen Sozialfonds oder des Fonds für regionale Entwicklung nicht mehr abrufbar wären.

Thüringen stehen die Wahlen noch bevor. Welche Lehren ziehen Sie aus den Wahlen in Sachsen und Brandenburg im Hinblick auf die Thüringenwahl?
Ich mache meine Arbeit. Und ich erzähle und zeige den Menschen, wie diese Arbeit wirkt. Diesem Grundsatz folge ich seit Beginn meiner Amtszeit. Deswegen verfalle ich nicht in Hektik, nur weil Wahlen anstehen oder weil gerade Wahlen waren. Die Arbeit, die geleistet werden muss, wird getan. Maßgeblich sind dabei nicht parteipolitische oder ideologische Gesichtspunkte, sondern einzig der praktische Mehrwert für das Land und die hier lebenden Menschen.

Zum Beispiel?
Wir müssen bei der Bildung einiges neu organisieren. Referendare schneller einstellen, die Schulen baulich sanieren und fit machen für die digitale Zeit und wir müssen die Finanzierung der Kindergärten hinbekommen – da sind große Kraftanstrengungen nötig. Wir befinden uns da mitten in einem Prozess. Als ich angefangen habe als Ministerpräsident, gab es 17 200 Lehrerinnen und Lehrer im Schuldienst. In der Regierungszeit von Ministerpräsidentin Lieberknecht von 2009 bis 2014 sind 1491 Lehrerinnen und Lehrer eingestellt worden. In den fünf Jahren seit 2014, in denen ich die Chance hatte, das Thema zu bearbeiten, haben wir 3809 Lehrerinnen und Lehrer eingestellt. Und sind immer noch bei 17 200, weil so viele in Rente gegangen sind. Hätte ich im schleppenden Tempo der CDU-Regierung weitergemacht, wäre der Unterrichtsausfall heute mehr als doppelt so hoch.

Regieren ging bisher nur mit einer Mehrheit im Parlament. Sie sind es gewohnt, sich auf drei Parteien – Linke, SPD und Grüne – zu stützen. In Sachsen und Brandenburg müssen erst noch solche Regierungen gebildet werden, um auf eine Mehrheit zu kommen. Wenn Sie gefragt werden würden, wie sich das am besten anstellen lässt, was würden sie Dietmar Woidke und Michael Kretschmer raten?
Ich würde darauf hinweisen, dass die Dreierkoalition ein von mir angestrebtes Modell war. Das war kein Betriebsunfall. Ich habe über Jahre hinweg an der Entstehung der Dreierkoalition gearbeitet, weil ich zutiefst überzeugt war, dass wir eine andere politische Kultur in Thüringen brauchen. Die Zeit, in der eine große und eine kleine Partei die Regierung bilden, ist vorbei. Die großen haben sich selber klein gemacht, die kleinen sind vielfältig geworden, dieser Prozess war vorhersehbar und er bedurfte überzeugender neuer Antworten. Ich freue mich, dass uns das in Thüringen gelungen ist.

Und was würden sie den beiden Kollegen in Sachsen und Brandenburg sagen, die nicht zehn Jahre an einer Koalitionsvision gearbeitet haben?
Dass es einen großen Unterschied zu früher gibt. Wir brauchen eine neue und andere Form des Umgangs miteinander. Der Kollege in Schleswig-Holstein, Daniel Günther, hat eine scheinbar unverträgliche Koalition aus CDU, FDP und Grüne gebildet. Aber er hat den Bogen raus. Günther lässt allen drei Partnern die Nase im Gesicht. Und das ist auch mein Credo. Ich bin Ministerpräsident für ganz Thüringen und ich leite ein Kabinett, das von drei Parteien getragen wird, also achte ich darauf, dass keine Partei bevorzugt oder benachteiligt wird. Wir reden immer nur über den Inhalt.

Auch Minderheitsregierungen werden künftig wahrscheinlicher. Viele fürchten so eine Situation. Ist das begründet?
Das ist eine deutsche Phobie, die mich schon seit dreißig Jahren wundert. In den nordischen Ländern sind Minderheitsregierungen normal. Hier in Deutschland gilt es als Anomalie. Ich hätte mir gewünscht, Angela Merkel hätte nach der Bundestagswahl und dem Scheitern von Jamaika eine Minderheitsregierung angeführt. Weil ich der Meinung bin, dass das Land stabil genug dafür ist.

Ist Thüringen auch stabil genug für jeden denkbaren Fall, der nach den Wahlen am 27. Oktober eintreten könnte?
Wie gesagt: Minderheitsregierungen sind für mich kein Schreckgespenst. Ich strebe sie aber auch nicht an. Ich kämpfe erneut und mit ganzer Kraft für Rot-Rot-Grün.

Sind Sie auch im Gespräch mit CDU-Politikern?
Ich bin seit jeher im Gespräch mit CDU-Politikern. 2002, da hießen die Linken noch PDS, wurde Thüringen durch das Massaker am Gutenberg-Gymnasium erschüttert. Da gab es viele Fragen zu klären. Wir haben die Schlussfolgerungen im Landesparlament über die Parteigrenzen hinweg in großer Übereinstimmung gezogen. Der Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge 2000 hat uns ebenfalls zusammenrücken lassen. Daraus ist der Thüringen-Monitor entstanden, der regelmäßig die Einstellung der Thüringer Bevölkerung zu sozialen und politischen Themen abfragt. Ich kann ihnen weitere Beispiele nennen: Der Umgang mit dem NSU oder auch die Kommunalisierung des Energieunternehmens TEAG. Das zeigt, Demokraten können auch dann zusammenarbeiten, wenn sie getrennte Rollen besetzen als Regierung und Opposition. Dass sie dann, wenn es ums Land geht, auch zusammenstehen müssen.

Mal zu einem anderen Thema, über das im Vorfeld der ostdeutschen Wahlen wieder mal viel diskutiert wurde. Der Gegensatz von Ost und West. Gibt es noch Missverständnisse?
Ja! Und das schmerzt auch. Ich höre oft die Frage, warum die Menschen im Osten so undankbar seien? Oder warum wir noch eine ostdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz brauchen?

Und?
Es gibt noch viele Unterschiede in den Lebensverhältnissen. Wenn die Probleme gelöst sind, die durch die Teilung und den anschließenden Transformationsprozess entstanden sind, brauchen wir auch keine ostdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz mehr.

Wann ist die Teilung überwunden?
Wenn im öffentliche Bewusstsein die Erkenntnis verankert ist, dass beide, der Westen und der Osten in relevantem Maße zum wirtschaftlichen und politischen Gedeihen des Gemeinwesens beitragen. Da liegt noch ein Weg vor uns. Von 500 Deutschland dominierenden Konzernen haben 462 ihren Sitz im Westen. Die Stuttgarter Abrechnung von Daimler ist auch deshalb so gut, weil sie so kostengünstige Teile aus dem Osten kriegen. Und dann betrachtet man uns aus der Stuttgarter Sicht ein bisschen so wie den Fernen Osten. Oder man kann es auch böse sagen: An manchen Stellen ist es so, als wenn wir die Kolonie wären. Diese Sichtweise muss sich ändern, wir sollten Anerkennung füreinander entwickeln.

Nun ist es ja nicht möglich, einen Konzern dazu zu zwingen, seinen Firmensitz zu verlegen. Was nun?
Es sind neue große Unternehmen entstanden, die auch in Thüringen Steuern zahlen. Die Jenoptik AG, die Carl Zeiss Meditec AG und N3, eine Tochtergesellschaft von Lufthansa und Rolls-Royce. Das sind aber Ausnahmen. Alles andere sind kleine und mittelständige Betriebe. Da wiederum sind wir führend. Auf 1000 Einwohner liegt Thüringen auf Platz 1, was die Häufigkeit solcher Betriebe betrifft. Aufgabe der Landespolitik ist, diese Betriebe gut zu begleiten, damit sie stärker werden.

Seit 30 Jahren wird über die Angleichung von Ost und West geredet. Dabei ist die Wirtschaft nur einer von vielen Bereich. Brauchen wir überall eine Angleichung, zum Beispiel in der Kultur oder der Art, wie Menschen interagieren?
Eine Einheitsgeschichte, die alle gleich macht, das ist Quatsch. Was wir brauchen, sind gleiche Lebensverhältnisse. Und gleiche Lebensverhältnisse heißt, ich brauche Bus, Bahn, Gesundheits- und Daseinsvorsorge, innere Sicherheit und demokratische Teilhabe. In Bremerhaven genauso wie im ländlichen Raum Thüringens. Und – damit einhergehend – brauchen wir eine Entwicklung, die dazu führt, dass die Menschen von ihrer Hände Arbeit leben können.

Das Interview führte Johannes M. Fischer.