Von Wolfgang Molitor

Rechtlich ist die Sache klar: Wer einen Unfall oder Unglücksfall bemerkt, jedoch keinerlei Reaktion zeigt, auf irgendeine Art und Weise zu helfen, begeht eine Straftat. So steht es im Paragrafen 323c des Strafgesetzbuches. Die Absicht des Gesetzgebers ist unmissverständlich: Er will damit die gesellschaftliche Solidarität in Notfällen wahren. Ist eine Hilfeleistung für den Einzelnen zumutbar, dann hat jeder Bürger die Pflicht, einem anderen Menschen zu helfen, wenn das erforderlich ist.

Wegsehen ist strafbar: So klar die Rechtslage ist, so schwer fällt oft die Abwägung im Alltag. Während Fälle wie jener am vergangenen Wochenende in Heidenheim, wo ein junger Gaffer einen sterbenden Motorradfahrer mit dem Handy filmte und sich am Unfallort auch von den eintreffenden Rettungskräften dabei nicht stören ließ, die volle Härte des Gesetzes verdienen, so schwierig ist es oft, unterlassene Hilfeleistung aus Sicht der Angeklagten zu bewerten.

Im Fall der drei jetzt zu Geldstrafen zwischen 2400 und 3600 Euro Verurteilten, die am 3. Oktober 2016 in einer Essener Bank über einen bewusstlos zusammengebrochenen 83-jährigen Mann gleichgültig und achtlos hinweggestiegen waren oder einen großen Bogen um ihn gemacht hatten (wie eine Überwachungskamera im Vorraum der Bank dokumentiert hatte), mag der Fall rein rechtlich eindeutig sein. Drei Menschen haben weggeschaut. Und auch wenn ein Gutachten später ergab, dass der alte Mann selbst dann kurz darauf gestorben wäre, wäre ein Arzt früher benachrichtigt worden, greift der Paragraf 323c und macht die Wegseher zu Straftätern, die sogar als Konsequenz mit einer Haftstrafe bis zu einem Jahr zur Rechenschaft hätten gezogen werden können.

Die öffentliche Empörung über das Verhalten der Angeklagten ist groß. Zu Recht. Aber sie speist sich aus der Distanz. Denn viele Menschen fühlen sich emotional oder körperlich überfordert, einzugreifen. Manche schätzen die Situation falsch ein. Auch im Essener Prozess glaubte einer der Angeklagten zu seiner Entlastung darauf hinweisen zu müssen, er habe den hilflosen Rentner für einen schlafenden Obdachlosen gehalten, der keine Hilfe gebraucht hätte. Der Essener Richter hielt den Angeklagten jedenfalls zu Gute, möglicherweise andere Dinge im Kopf gehabt zu haben, und sprach strafmildernd von Augenblicksversagen.

Wer nicht hilft, sucht oft nach Verständnis. Verdrängung? Schutzbehauptung? Wer kann da eine klare Linie ziehen? Und wer fragt sich manchmal nicht, wo Zivilcourage aufhört, wenn man sich selbst damit - wie bei etlichen U-Bahn-Schlägereien - in große Gefahr bringt? Doch das Gesetz lässt auch in solchen Fällen wenig Spielraum. Auch wenn niemand verlangt, Schwerverletzte zu verarzten oder sich bei einer Schlägerei selbstgefährdend einzumischen: wegsehen und wegdrehen geht nicht. Unfallstellen können zumindest gesichert werden, einfache Erste-Hilfe-Maßnahmen sind zumutbar, das rasche Benachrichtigen von Polizei und Rettungsdiensten ist pure Selbstverständlichkeit. Dass Gerichte im Fall einer unterlassenen Hilfeleistung bei ihrem Urteil die Fähigkeiten und die Möglichkeiten des Helfers zu berücksichtigen haben, ist dabei selbstverständlich.

Schnell ist nach Vorfällen wie in Essen von einer Verrohung der Gesellschaft die Rede. Spektakuläre Einzelfälle stimmen in der Tat nachdenklich. Verallgemeinern aber sollte man sie nicht. Dass Menschen am Unglücksort helfen, dass sie sich engagiert einmischen und spontan Verantwortung übernehmen - das ist eher die Regel als eine Ausnahme. Die Pflicht, zu helfen: Die meisten Menschen wissen, was im Notfall zu tun ist - auch ohne Druck durch den Strafparagrafen 323c.