Von Ariane Holzhausen

Harvey Weinstein ist durch. Vom einflussreichen US-amerikanischen Produzenten ist nur noch das Abziehbild jenes Monsters übrig, das sich lange hinter seiner Allmacht verstecken konnte. Weinstein nahm sich heraus, Frauen als Sexspielzeug zu benutzen. Er war stark, die Frauen schwach. Ein Machtgefüge, in dem es immer nur Verliererinnen gibt - und in dem bisher große Verschwiegenheit herrschte. Dann aber folgte Schlag auf Schlag: Immer mehr Frauen entluden ihre scheußlichen Erfahrungen mit dem Mogul in der Presse. Hass und Ablehnung rollten über Weinstein hinweg.

Noch nie hat ein ähnlicher Fall solche Brecher geschlagen. Dank Weinstein kommt jetzt der ganze Hollywood-Betrieb unter die Räder - und nicht nur der. So erschütternd dieser Gedanke für die Gesellschaft ist, es hat Weinsteins Monstrositäten gebraucht, um eine überfällige Diskussion in Gang zu bringen, jede einzelne Stimme laut werden zu lassen - nicht nur solche aus der scheinbar kranken Traumfabrik irgendwo in Amerika.

Den ersten Schritt in eine neue Bewegung hat die US-amerikanische Schauspielerin Alyssa Milano gemacht. In ihrem Twitter-Kanal forderte sie jeden, der schon mal sexuell belästigt oder angegriffen wurde, dazu auf, ihr unter dem Hashtag „me too“, „Ich auch“, zu antworten. Mehr als 50 000 Menschen reagierten darauf, mehr als 50 000 Menschen sehen sich als Betroffene, darunter viele, die sich zum ersten Mal trauen, sich zu äußern.

Wie viele Reaktionen davon sind echt, wie viele nicht? Kann das bei über 50 000 ernsthaft eine Frage sein? Reichten nicht schon hundert echte, um zu beweisen, dass mächtig etwas schiefläuft im Zwischenmenschlichen? Zweifellos. Viel schwerer zu beantworten ist die Frage, wo denn die Grenze zwischen willkommener Anmache und sexueller Belästigung verläuft. Die deutsche Vorzeige-Beißzange und Komikerin Carolin Kebekus stößt uns schon lange mit ihren heftigen Späßen auf den Ernst der Lage: „So ein gut gefüllter Ausschnitt ist eine Falle, aber die stellen wir selber auf. Nur: Die Falle ist eigentlich für Brad Pitt - und jetzt haben wir da manchmal halt so ein bisschen Brüderle als Beifang!“

Doch als der FDP-Politiker Rainer Brüderle 2013 einer Journalistin zu nahe trat, löste das nur eine kurze und leise Sexismus-Debatte aus. Jetzt wird nicht mehr gelacht. Jetzt wird geredet: Weinsteins gibt es überall, „me too“. Wann rutscht der Blick des Vorgesetzten zu tief in den Ausschnitt? Und welche Zote macht Frau besser mit, um als Teamplayer mitspielen zu dürfen? Wer stellt überhaupt die Spielregeln im Arbeitsalltag auf, wo Hierarchien klar umrissen sind? Dem Typen an der Bar, der sich nicht nur im Ton vergreift, ist schnell eine gelangt. Aber den Big Bosses ein „Nein!“ an den Kopf zu werfen: Wer traut sich das?

„Sind Sie eigentlich gut im Bett?“ Solche Mann-zu-Frau-Fragen gehörten im Weinstein-Umfeld zum normalen Geschäftston. Im Zweifel wurden sie als Witz deklariert. Darüber grinst jetzt keine mehr. Es muss geredet werden. Nicht nur im Schutz schenkenden anonymen Internet, sondern von Angesicht zu Angesicht. Es wird immer Frauen geben, die sich gewollt und aktiv hochschlafen, es wird aber auch immer die geben, die das nie machen würden. Pauschal verbieten lassen sich unanständige Fragen - aber was noch? Ein Zulächeln? Ein kleiner Flirt? Die eine nimmt ihn als Kompliment, für die andere ist er vielleicht schon eine Zumutung. Jeder muss seine eigene Schmerzgrenze verteidigen dürfen. Nein heißt Nein. Und das fängt schon beim Umgangston an.