Von Detlef Drewes

Die wüsten Drohungen des türkischen Präsidenten kann man als Theater abtun. Denn das Votum des Europäischen Parlaments für einen Abbruch der Beitrittsgespräche ist kaum mehr als ein unverbindliches Signal, das weder die Verhandlungsführung der EU-Kommission noch die Mehrheit im Kreis der Staats- und Regierungschefs verändert. Das weiß auch Erdogan. Trotzdem brauchte er einen starken Auftritt, um nach innen hin zu dokumentieren, dass er Regie führt und Europa notfalls auch erpressen kann, wenn er nicht anders zum Ziel kommt. Dabei sind die Flüchtlinge für ihn nur ein willkommenes Instrument, um das große Ziel zu erreichen: Erdogan will die visa-freie Einreise, denn die hat er seinen Landsleuten versprochen.

Dazu braucht er zumindest den Anschein, dass er sein Land in die EU führt. Beides bleibt aber eine Illusion. Zumindest so lange, wie dieser Präsident nicht von dem Kurs eines rachsüchtigen und jedes Gerede von Demokratie Lügen strafenden Alleinherrschers abrückt. Das wird er nicht. Und das macht die Drohung zu realistisch. Erdogan dürfte nicht zögern, die Grenzen zu öffnen und zuzusehen, wie Europa von den fast drei Millionen Syrien-Flüchtlingen, die sich derzeit in der Türkei befinden, zerrissen wird.

Dabei verschweigt der Präsident seinen Landsleuten die volle Wahrheit. Nicht die EU, sondern Ankara hat es in der Hand, wie und wann es mit der Integration weitergeht. Die Visa-Liberalisierung wurde nicht leichtfertig gestoppt, sie liegt auf Eis, weil Ankara die für jeden Kandidaten gültigen Bedingungen nicht erfüllt. Dazu gehört die Abschaffung des Anti-Terror-Paragrafen. Dass der eines Rechtsstaates unwürdig ist, belegt die Willkür, mit der die türkischen Behörden ihn derzeit anwenden. Ein Land, das so regiert wird, indem nicht einmal mehr die Todesstrafe tabu ist, hat keinen Platz in der EU. Und auch kein Recht darauf, europäische Öffnung einzufordern. Erdogan will eine Kraftprobe, die Europäer werden ihr nicht ausweichen können. Der Preis für diese Gradlinigkeit könnte allerdings hoch sein. Eine weitere Flüchtlingswelle würde die EU erschüttern, auch politisch, weil sie rechtsnationale Kräfte stärken dürfte. Erdogan weiß das. Und er kalkuliert damit. Was muss eigentlich noch passieren, bis alle EU-Staaten, die bisherigen Gegner der Asylpolitik eingeschlossen, Einigkeit demonstrieren und zeigen, dass die türkischen Drohungen an Europa abprallen?