Von Gerd Höhler

Wie der heute beginnende Prozess gegen die deutsche Übersetzerin Mesale Tolu aus Ulm ausgehen wird, weiß niemand. Der 33-Jährigen drohen wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer linksextremen Organisation bis zu 20 Jahre Haft. Doch unabhängig vom Urteil: Das Verfahren ist schon jetzt eine weitere Belastung der schwer strapazierten deutsch-türkischen Beziehungen. Elf Bundesbürger sitzen als politische Gefangene in türkischen Gefängnissen. Und Ankara erhöht den Druck. Dem Dokumentarfilmer und Menschenrechtler Peter Steudtner drohen laut Anklage bis zu 15 Jahre Haft. Und doch erklärt der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu, es gebe „keinen Grund für Probleme zwischen Deutschland und der Türkei“.

Doch es gibt einen Grund. Und der heißt Recep Tayyip Erdogan. Seit Monaten vergiftet der türkische Staatschef die Beziehungen zu Deutschland mit absurden Nazi-Vergleichen. Er nimmt ausländische Staatsbürger als Geiseln, um über einen Menschenhandel zu feilschen - nicht nur mit Berlin. So bietet er jetzt den vor einem Jahr verhafteten amerikanischen Pastor Andrew Brunson im Austausch gegen den in den USA lebenden Erzfeind Fethullah Gülen an. Angesprochen auf das Schicksal der deutschen politischen Häftlinge, verweist Cavusoglu auf die Unabhängigkeit der türkischen Justiz.

Doch was heißt das nach Erdogans Säuberungen, denen bereits 4463 Richter und Staatsanwälte zum Opfer gefallen sind? Wie frei können Gerichte entscheiden, nachdem der Staatschef den „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel als Terroristen und den Menschenrechtler Steudtner als Putschisten vorverurteilt hat?

Das Verhältnis zu Deutschland, einst der engste Partner der Türkei, ist zerrüttet. In den Beziehungen zur EU herrscht Eiszeit. Nun trägt Erdogan die Hexenjagd gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger sogar ins Istanbuler US-Konsulat und riskiert den Bruch mit Washington.

Die Türkei ist auf Abwege geraten. Erdogans Feldzug gegen die syrischen Kurden zieht das Land immer tiefer in den Strudel des Bürgerkriegs im Nachbarland. Auch die innere Stabilität der Türkei gerät ins Wanken. Der Putschversuch bot dem Staatschef die Gelegenheit, demokratische Institutionen zu schleifen. Der vor 15 Monaten verhängte Ausnahmezustand ermöglicht dem Staatschef, das Land mit Dekreten im Alleingang zu regieren. 150 000 Staatsbedienstete sind entlassen, mehr als 180 Medien geschlossen. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Zeitungen und TV-Sender gleichgeschaltet.

Mit der neuen Präsidialverfassung hat Erdogan die Gewaltenteilung ausgehebelt und das Parlament entmachtet. Seine Konfrontationspolitik gegenüber Europa und den USA isoliert das Land nicht nur außenpolitisch. Erdogan spielt auch mit der wirtschaftlichen Zukunft. Die vergangenen Monate haben gezeigt: Die Freunde und Partner der Türkei haben fast keinen Einfluss mehr auf die Entwicklungen im Land. Wohlmeinende Ratschläge weist Erdogan als Einmischung zurück, Geduld interpretiert er als Schwäche, Kritik beantwortet er mit Hasstiraden. Die Strategie, Erdogan mit einer Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen zur Vernunft zu bringen, geht schon deshalb nicht auf, weil der türkische Präsident die Brücken zu Europa ohnehin abbrechen will. Erdogan ist fest davon überzeugt, dass die Türkei Europa und die Nato nicht als Partner braucht.

Diplomatischer Druck und wirtschaftliche Sanktionen werden wenig bewirken. Die Türken selbst müssen entscheiden, ob sie Erdogan folgen wollen. Die nächste Präsidentenwahl, die spätestens 2019 ansteht, wird zur Weichenstellung.