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Esslingen - Die Spitzenkandidatin der SPD für die Bundestagswahl will ihre Partei auf den angestammten zweiten Platz in der Gunst der Wähler im Südwesten zurückführen: Nach 12,7 Prozent und Platz vier in der Landtagswahl 2016 zeigt sich Leni Breymaier zuversichtlich. Im bisherigen Wahlkampf ist für sie das Thema soziale Gerechtigkeit zu kurz gekommen.

Seit dem Fernsehduell von Angela Merkel mit Martin Schulz gibt es eine Debatte über die Rente mit 70, obwohl beide dies ausgeschlossen haben. Was fällt Ihnen dazu ein?

Breymaier: Wir brauchen die Rente mit 70 nicht. Es gibt keine demografische und auch keine wissenschaftliche Begründung. Wer die Rente mit 70 will, will die Rente kürzen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht wieder - flankiert von Wissenschaftlern und interessierter Politikseite - die Arbeitsbedingungen verschlechtern. Wir müssen auch sehen, dass insbesondere Menschen, die richtig wenig Geld haben und verdienen, auch tatsächlich deutlich früher sterben. Und zwar nicht marginal in Monaten, sondern in Jahren. Ich finde es einfach unglaublich, die Leute bis 70 arbeiten lassen zu wollen.

Reichen somit die bisherigen Änderungen am Rentensystem aus?

Breymaier: Wir haben demografisch getan, was zu tun ist - und das reicht. Die Rente mit 67 ist ja auch wissenschaftlich begründet worden, aber wie lange sind eigentlich die Haltezeiten von solchen wissenschaftlichen Erkenntnissen? Die Kinder kommen früher aus den Schulen, die Studiengänge sind schneller, die Frauenerwerbstätigkeit ist deutlich höher als eine Generation vorher. Wir haben keine verpflichtende Bundeswehrzeit mehr. Es ist im Grunde genommen alles getan worden, um die Erwerbsquote hoch zu halten. Und nur um das geht es am Ende. Und es geht darum, wie viel die Leute verdienen und wie viel Beiträge sie zahlen.

Es gibt immer wieder Debatten über flexiblere Systeme. Klar ist, dass Dachdecker nicht mehr mit 70 auf dem Dach herum steigen. Aber was ist bei weniger belastender Tätigkeit?

Breymaier: Was wir brauchen, sind Ausstiegschancen für Menschen, die abgearbeitet sind. Deshalb wollen wir eine verbesserte Erwerbsminderungsrente nicht nur für künftige, sondern auch für Bestandsrentner. Man muss einfach sehen: Wer eine kürzere Regelarbeitszeit hat, hat auch weniger Rente. Ich rede da auch nicht nur vom Dachdecker und vom Bauarbeiter. Ich rede auch von der Krankenschwester, der Altenpflegerin und der Erzieherin und anderen Berufen. Auch in Verwaltungsberufen können wir an den Zahlen ablesen, dass wir da eine ganz hohe Burn-out-Quote haben. Die Leute gehen auch kaputt, wenn sie nicht körperlich arbeiten. Das muss man schon im Blick haben. Wer länger arbeiten will, der kann das. Wir haben kein Beschäftigungsverbot für alte Menschen in Deutschland. Wir reden nur über die Regelaltersgrenze.

Die SPD lädt heute zum länderübergreifenden eigenen Autogipfel mit Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aus den Nachbar-Bundesländern sowie aus Thüringen ein. Dabei sind auch Vertreter etwa von IG Metall und vom BUND. Was versprechen Sie sich davon?

Breymaier: Im Süden sind wir von dem, was in der Automobilindustrie passiert, besonders betroffen. Wir haben in Hessen und Thüringen Opel, in Bayern Audi und BMW, in Baden-Württemberg Daimler und Porsche. Wir wollen versuchen, unser Augenmerk zum einen auf die Umwelt zu legen, zum anderen auf die Entwicklung der Arbeitsplätze in der Branche. Es ist nicht so, dass wir das heute machen - und dann ist alles erledigt. Es ist der Beginn einer Veranstaltungsreihe, die wir gemeinsam auf der Südschiene der SPD durchführen. Wir werden uns beim nächsten Mal, das wird im Januar sein, in Bayern intensiv der Frage des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs widmen. Das gehört ja alles dazu. Wir erhoffen uns eine gute inhaltliche Debatte und einen Austausch. Wir wollen, dass alle Interessen, die es da gibt, nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern dass wir sie übereinander bekommen.

Die Automobilkonzerne haben hunderte Milliarden in den vergangenen Jahren verdient, sie weigern sich aber, bei Betrugs-Dieseln technische Nachrüstungen zu bezahlen. Ist die Politik zu lasch?

Breymaier: Wir sind ja in einer Phase, in der geprüft wird, ob die Software-Nachrüstungen reichen. Ich persönlich vermag heute nicht zu beurteilen, ob das reicht. Es gibt Fachleute, die sagen, dass es nicht reicht. Wenn es nicht reicht, muss tatsächlich am Auto geschraubt werden - und wenn es die Nachrüstung am Auto braucht, dann ist das natürlich von den Automobilfirmen zu übernehmen.

Kanzlerin Angela Merkel will die Konzerne in diesem Fall zu Kasse bitten. Nehmen Sie ihr das ab?

Breymaier: Ich will auch die Konzerne zu Kasse bitten. Da muss sie sich am Ende auch dran messen lassen, falls sie dann je noch Kanzlerin sein sollte. Ich sehe überhaupt keine andere Lösung für das Problem.

Die Landesregierung bremst bei Fahrverboten. Knickt sie vor der Industrielobby ein oder schützt sie wohlmeinende Dieselfahrer vor unbilligen Härten?

Breymaier: Ich würde mir wünschen, dass alle, die hier Verantwortung tragen, sich nicht von den Gerichten treiben lassen. Es gibt eine Gerichtsentscheidung, die jetzt nochmals Schwung in die Debatte gibt - und am Ende des Tages ist es gut, wenn alles getan wird, um Fahrverbote zu verhindern. Der Handwerker, der Pendler, der eine schlechte Zugverbindung hat - die können natürlich kein Interesse an Fahrverboten haben. Aber wenn gar nichts hilft, wenn uns nichts Intelligenteres einfällt, dann kann es auch Fahrverbote geben.

Die Euphorie für batteriebetriebene Elektroautos ist ungebrochen. Lauert da nicht eine Technikfalle, wenn man bedenkt, mit welcher Umweltschädigung allein die Beschaffung der für Batterien nötigen Bestandteile wie etwa seltener Erden einhergeht?

Breymaier: Das Elektroauto hat Charme, ist superleise, verbraucht erstmal keine fossile Energie - aber auch nur dann, wenn der Strom nicht aus Kohle kommt. Ich denke schon, dass das Elektroauto in Zukunft eine wichtigere Rolle spielen wird als heute. Ich glaube aber nicht, dass das Elektroauto alleine das Auto der Zukunft sein wird.

Mit 12,7 Prozent in der Landtagswahl 2016 dürfte für die SPD der Tiefpunkt erreicht sein. Was ist am 24. September ein Erfolg?

Breymaier: Wir hatten nur 12,7 Prozent und sind nur viertstärkste Partei geworden. Ich will bei der Bundestagswahl klar zweitstärkste Partei in Baden-Württemberg werden. Mein Ziel ist auch, dass wir als baden-württembergische SPD mehr Abgeordnete als heute im Bundestag haben. Ein weiteres Ziel ist, die Schere zwischen der Bundes-SPD und Baden-Württemberg weiter zu schließen. Wir waren ja all die Jahrzehnte im Abstand um die fünf Prozentpunkte zum Bund.

Martin Schulz und das Thema Gerechtigkeit haben anfangs für immensen Schub in den Umfragen gesorgt. Worauf führen Sie den anschließenden Absturz zurück?

Breymaier: Ich glaube, es war ein Fehler, dass sich Martin Schulz komplett aus der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen herausgehalten hat. Das war so ähnlich, als ob man einen kochenden Topf vom Herd nimmt. Es war schwierig, da wieder anzuschließen. Wir alle haben gespürt, dass wir als SPD locker zehn Prozent mehr wert sind als in den Umfragen des vergangenen Jahres. Und wir haben auch gespürt, dass es in Deutschland durchaus eine Merkel-Müdigkeit gibt. Ich glaube, dass wir es schaffen können, dies in den letzten zwei Wochen vor der Wahl nochmals zu beleben und den Topf nochmal auf die Herdplatte zu ziehen.

Beim Thema soziale Gerechtigkeit ist die SPD konstant mit Entscheidungen aus der Vergangenheit konfrontiert: Rührt ein Teil eines Glaubwürdigkeitsproblems nicht von den Hartz-Gesetzen oder von Flops wie der Riester-Rente her?

Breymaier: Wenn heute jemand 20 Jahre alt ist, dann sind die Hartz-Gesetze gemacht worden, als er in die Schule kam. Es sind viele Jahre ins Land gegangen und es waren viele Gelegenheiten da, sich an der SPD abzuarbeiten. Ich sehe, dass wir Wesentliches an den Hartz-Gesetzen verändert haben: Der Mindestlohn ist die Korrektur der Hartz-Gesetze. Ich sehe, dass wir in den letzten Jahren klare sozialdemokratische Politik gemacht haben - und mit den 25,7 Prozent, die uns die Wähler bei der letzten Wahl gegeben haben, echt einiges umsetzen konnten. Ich fände es wirklich gut, wir könnten da weitermachen. Die sozialdemokratische Handschrift würde fehlen.

Welche Rolle spielen im Wahlkampf Themen wir Rente oder Sozialwohnungsbau?

Breymaier: In den Einzelgesprächen spielt es eine große Rolle. Rente und insbesondere auch Besteuerung von Renten sind sehr große Themen. Bei Veranstaltungen zu diesen Themen sind die Säle gefüllt - natürlich noch mehr, wenn Promis kommen.

Sie haben sich vehement gegen eine weitere Große Koalition ausgesprochen. Der Verlauf des Duells Merkel/Schulz verleitet aber eher zur Annahme, dass dafür schon Vorkehrungen getroffen werden.

Breymaier: Das konnte ich nicht erkennen. Ich fand schwierig bei diesem Duell, dass man sich die meiste Zeit mit den Themen Innere Sicherheit, Geflüchtete und Terrorismus befasst hat und dass die Fragestellungen der sozialen Probleme dieses Landes nicht abgearbeitet wurden. Das ist bitter. Wenn man an die sozialen Themen geht, wenn es um Wohnungsbau und Renten geht, wenn es ums Gesundheitswesen geht oder um das Rückkehrrecht auf Vollzeitarbeit, wenn man an kostenfreie Kitas denkt, dann haben wir sehr gravierende Unterschiede zur CDU. Das ist leider im Duell nicht vorgekommen.

Das Gespräch führte Hermann Neu

zur person

Leni Breymaier ist Landesvorsitzende und Spitzenkandidatin der Südwest-SPD für die Bundestagswahl am 24. September. Geboren wurde sie am 26. April 1960 in Ulm. Ausbildung und Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau von 1976 bis 1982. Gewerkschaftssekretärin bei DAG und ÖTV in Mannheim, Göppingen und Stuttgart von 1982 bis 2002. Von 2002 bis 2007 war Stellvertretende Vorsitzende des DGB im Land und von 2007 bis 2016 Verdi-Landesbezirksleiterin. Zur Landeschefin der SPD wurde sie am 22. Oktober 2016 gewählt