Bernd Riexinger: Wir haben nach wie vor Riesenlücken bei Bildung, Erziehung und Gesundheit. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Esslingen - Der Spitzenkandidat der Linken in Baden-Württemberg, Bernd Riexinger, ist zuversichtlich, dass seine Partei nach der Bundestagswahl am 24. September wieder als drittstärkste Kraft ins Parlament einziehen wird.

Der Migrationsgipfel in Paris mit deutscher Beteiligung hat beschlossen, Flüchtlinge bereits in Afrika an der Südgrenze Libyens vom Weg über die Mittelmeer-Route abzuhalten. Ist das realistisch?

Riexinger: Das ist nicht nur unrealistisch, sondern falsch. Sie können in diesen Ländern, in denen nicht einmal mehr eine ordentliche Staatlichkeit besteht, wie zum Beispiel in Libyen, kein rechtsstaatliches Verfahren erwarten. Da wird der Grundsatz unseres Asylrechts verlassen und es wird überhaupt keinen Erfolg bringen. Es ist pure Illusion zu meinen, dass durch solche Verfahren Flüchtlinge abgehalten werden, nach Europa zu kommen. Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, indem wir Waffenexporte stoppen und den Menschen in ihrer Heimat wirkliche Perspektiven bieten. Dafür müssen wir unsere Wirtschaftspolitik gegenüber Afrika grundlegend ändern.

Die Linke findet klare Worte zu Trump und Erdogan, ihre Russlandpolitik aber ist manchen zu Putin-freundlich. Dabei muss man nach Menschenrechtsverletzungen in Russland nicht lange suchen, genannt sei aktuell nur der Fall des Regisseurs Serebrennikow.

Riexinger: Wir kritisieren die undemokratischen Verhältnisse in Russland scharf und haben dazu sogar Parteivorstandsbeschlüsse gefasst. Für mich ist Putin Vorsitzender eines Oligarchenclubs und kein Vorbild. Aber man muss etwas unterscheiden. Was Außen- und Sicherheitspolitik angeht, sind wir der Meinung, dass der Frieden in Europa nur gesichert werden kann, wenn es gut nachbarschaftliche Beziehungen zu Russland gibt. Was auch mal das Verständnis der Außenpolitik insgesamt war.

Als Knackpunkt für mögliche Regierungsbündnisse mit der Linkspartei galt immer die Position zur Nato. Wie ist der Stand aktuell?

Riexinger: Wir wollen die Nato durch ein System der Sicherheitspartnerschaft ersetzen. Unter Einbeziehung von Russland. Aber das ist für uns keine Bedingung für eine Regierungsbeteiligung. Die Bedingung ist: Keine Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland. Zu der stehen wir auch vollkommen. Die bisherigen Militäreinsätze, sei es in Afghanistan, sei es über Syrien in den AWACS-Flugzeugen, sei es in Mali, beweisen, dass sich mit Militäreinsätzen die Probleme in der Welt nicht lösen lassen und im Übrigen auch die Zahl der Terroristen eher vergrößert als vermindert.

Baden-Württemberg gilt nicht gerade als Stammland der Linken. Woran liegt das, geht es den Leuten so gut? Laut einer gestern veröffentlichten Statistik ist das Armutsrisiko im Land bundesweit am geringsten.

Riexinger: Die wirtschaftlichen Verhältnisse in Baden-Württemberg sind besser als in den anderen Ländern. Aber es ist nicht so, dass es keine Probleme gibt. Es gibt für immer mehr Leute kaum noch bezahlbaren Wohnraum, es fehlt hinten und vorne am Sozialen Wohnungsbau, wir haben nach wie vor Riesenlücken bei Bildung, Erziehung und Gesundheit. Und wir haben auch hier einen hohen Stand an sogenannter prekärer Arbeit, also insbesondere an Leiharbeit, an Lohndumping durch Werkverträge und an befristeten Arbeitsverhältnissen. Es gibt auch in Baden-Württemberg viel zu tun, wofür eine starke Linke benötigt wird.

Die Linke war bisher im Bundestag die drittstärkste Fraktion. Was für eine Marke haben Sie sich für den 24. September gesteckt?

Riexinger: Wir haben das klare Ziel, drittstärkste Partei zu werden, also vor AfD, FDP und Grünen zu landen. Ich nehme immer nicht eine Umfrage, sondern die regelmäßigen Umfragen der sieben größeren Institute. Da liegen wir vor der FDP und vor den Grünen sowieso und auch vor der AfD. Ich bin optimistisch, dass wir dieses Ziel erreichen können und in Baden-Württemberg über fünf Prozent kommen

Nach furiosem Auftakt mit Martin Schulz ist die SPD abgestürzt. Was sehen Sie als Grund für die Schwäche der Sozialdemokraten?

Riexinger: Erstens, dem Versprechen auf soziale Gerechtigkeit sind wenig oder kaum konkrete Konzepte gefolgt. Zweitens, das Rumeiern in der Koalitionsfrage. Wenn die SPD erwägt, auch mit der FDP zu koalieren, wird sie in der Frage sozialer Gerechtigkeit nicht glaubwürdiger. Zum Dritten ist die SPD keine klar erkennbare Alternative zu Merkel.

Die AfD, die viele für ein vorübergehendes Phänomen gehalten haben, steht aktuell bei zehn Prozent. Gibt es in Deutschland ein verfestigtes Potenzial an Rechtspopulisten oder handelt es sich immer noch eher um Protest?

Riexinger: Sie stehen aktuell zwischen sieben und zehn Prozent. Ich glaube schon, dass es in Deutschland einen Anteil von Menschen gibt, die zumindest sehr empfänglich für rechte, rassistische, rechtspopulistische oder auch fremdenfeindliche Positionen sind. Das ruft die AfD ab. Denjenigen, die aus Protest AfD wählen, weil sie zum Beispiel unzufrieden sind über die sozialen Verhältnisse im Land, müssen wir deutlich machen, dass die AfD im sozialen Bereich überhaupt nichts zu bieten hat. Sie hat weder bei der Steuerpolitik noch bei der Wohnungspolitik noch bei der Rentenpolitik den Leuten, denen es nicht so gut geht, irgendein Konzept angeboten. Im Gegenteil: Sie wollen sogar noch die Steuern für Reiche und Superreiche reduzieren, sie wollen das Renteneintrittsalter freigeben, was nichts anderes heißt als dass die Renten noch weiter abgesenkt würden. Die AfD ist durch und durch eine unsoziale Partei, das muss man mehr ins öffentliche Bewusstsein rücken.

Die Dieselthematik wird immer mehr zu einem Wahlkampfthema. Erste Festlegungen wie vom CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer oder vom Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir, was für eine Antriebstechnik eine Bedingung für eine Koalition im Bund sein soll, machen die Runde. Wie positioniert sich die Linke?

Riexinger: Es ist doch lächerlich, wenn jetzt quasi ein Antriebsmotor über eine Koalitionszusammensetzung entscheidet. Wenn die einen sagen: Ohne Diesel gehe ich nicht in eine Koalition und die anderen, mit Diesel gehe ich nicht in eine Koalition. Das dürfte schon ein bisschen skurril werden. Wir haben eine klare Position: Die Automobilindustrie hat die Verbraucher betrogen und auch nicht im langfristigen Interesse der Beschäftigten gehandelt. Der Gesetzgeber hat die Aufgabe, die Automobilindustrie zu zwingen, für den Schaden aufzukommen. Das Software-Update ist ja eher ein Placebo. Die Konzerne müssen auf ihre Kosten Nachrüstungen an Motor und Abgasanlage vornehmen, damit die zugesagten Abgaswerte eingehalten werden.

Wie geht es technisch weiter?

Riexinger: Dennoch ist die Zeit des Verbrennungsmotors schon wegen der Ressourcen endlich. Doch es wird für eine klimagerechte Mobilität nicht reichen, einfach den Verbrenner durch den Elektroantrieb zu ersetzen. Wir brauchen neue Mobilitätskonzepte. Man kann die Städte nicht mit noch mehr Autos zupflastern. Wir brauchen intelligente Verkehrssysteme, die individuelle Verkehrsinteressen mit öffentlichem Personennahverkehr verbinden. Das wäre im übrigen eine wichtige politische Aufgabe: Die Erforschung und Erprobung solcher Konzepte und die Produktion solcher Mobilitätssysteme in die Wege zu leiten. Gerade auch um die Arbeitsplätze in der Automobilindustrie zu erhalten. Da bin ich übrigens sehr enttäuscht von den Grünen, die nur ein Konzept haben: Fortsetzung der Automobilproduktion mit anderen Antriebssystemen. Das ist zu wenig für ein ökologisch nachhaltiges Konzept.

Im Land sind 280 000 Arbeitsplätze direkt oder indirekt vom Bau von Dieselmotoren abhängig. Was muss diese Zahl für eine Rolle spielen?

Riexinger: Das wird ein Riesenproblem für Baden-Württemberg und für diese Region. Allein durch die Elektro-Motorisierung fiele ja ein großer Teil der Arbeit der Zulieferer weg. Man braucht keine Kolben mehr, man braucht kein Getriebe mehr. Ganz viele Teile, die man für einen Diesel- oder einen Benzinmotor braucht, braucht man nicht mehr. Und in einem E-Automobil sind deutlich weniger Teile drin, die werden ersatzlos wegfallen. Diese Umstrukturierung so zu gestalten, dass die Arbeitsplätze nicht verloren gehen, halten wir für eine ganz wichtige politische Aufgabe.

Glauben Sie an den „sauberen Diesel“, oder hat sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen mit seinem Bekenntnis zu weit vorgewagt?

Riexinger: Auf alle Fälle. Es ist ein Unding, dass ein grüner Ministerpräsident sich von einem Gericht dazu verurteilen lassen muss, die gesetzlich vorgeschriebenen Emissionswerte einzuhalten. Man hätte vielleicht geglaubt, dass man das mit einer konservativen Regierung machen muss. Aber dass ausgerechnet der grüne Ministerpräsident nun gegen die Deutsche Umwelthilfe sogar eine Revision erwägt, hätte ich mir nicht träumen lassen. Es zeigt, wie sehr Kretschmann vor der Automobillobby eingeknickt ist. Den Konzernen geht es einfach um kurzfristige Profitinteressen zu Lasten der Gesundheit der Bevölkerung und zu Lasten des Umweltschutzes, aber auch zu Lasten der Verbraucher und der Beschäftigten. Die Dieselproduktion und letztlich der ganze Wirtschaftsstandort wird doch in großen Ausmaß diskreditiert, wenn „Made in Germany“ mit flächendeckendem Betrug verbunden wird.

Das Gespräch führte Hermann Neu.