Das sind die begehrten Sitze: Die Farbe der Bestuhlung im Plenarsaal des Bundestags wird scherzhaft Reichstagsblau genannt. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Esslingen - Zwei Stimmen hat jeder Wahlberechtigte bei der Bundestagswahl am 24. September. Doch kann der einzelne Wähler überhaupt abschätzen, welche Folgen seine Wahlentscheidung hat? Kaum, sagt der Politologe Michael Wehner. Dass sechs Parteien realistische Chancen auf den Einzug ins Parlament haben, mache die Ausgangslage besonders komplex.

Herr Wehner, wie können Wähler ihre beiden Stimmen bei der Bundestagswahl taktisch einsetzen?

Wehner: Mit Ausnahme von Berlin teilen Union und SPD die durch die Erststimme vergebenen Direktmandate unter sich auf. Die Kandidaten der kleineren Parteien haben realistisch keine Chance, einen Wahlkreis zu gewinnen. Insofern macht es Sinn, die Erststimme unabhängig von der Zweitstimmenpräferenz einer der beiden großen Parteien zu geben.

Die Bezeichnung Erststimme suggeriert fälschlicherweise, es handele sich dabei um die wichtigere Stimme . . .

Wehner: Über die Zusammensetzung des Parlaments entscheidet die Zweitstimme. Insofern ist sie die wichtigere der beiden Stimmen. Allerdings wurden - bedingt durch die Fünf-Prozent-Hürde - bei der Verteilung der Mandate nach der letzten Bundestagswahl 15,7 Prozent der Zweitstimmen nicht berücksichtigt. Dass sowohl FDP wie auch AfD knapp nicht ins Parlament einzogen und diesen Effekt verursacht haben, ist aber sicher eine Ausnahme.

Leihstimmenkampagnen waren in deutschen Wahlkämpfen lange eine bewährte Strategie, um kleine Parteien mit Unterstützung der Volksparteien über die Fünf-Prozent-Hürde zu hieven. Hat sich das Modell überholt?

Wehner: Die Union hat im Bundestagswahlkampf 2013 und auch vor mehreren Landtagswahlen deutlich gemacht: Leihstimmenkampagnen gibt es nicht mehr. Die Konsequenzen sind angesichts der Auflösung der Lager und unsicherer Koalitionswahrscheinlichkeiten nicht mehr so leicht absehbar wie in den 1980er-Jahren. Damals musste man nur die FDP über fünf Prozent hieven und konnte dann mit ihr koalieren. Bei komplexen Wahlergebnissen, die teils zu Dreierkoalitionen führen, sind die Folgen kaum berechenbar.

Traditionell zogen die Parteien in Deutschland mit positiven Koalitionsaussagen in den Wahlkampf, in den 90er-Jahren etablierte sich dann die „Ausschließeritis“. Neuerdings vermeiden fast alle Parteien jedwede Festlegung. Ein Wandel der politischen Kultur?

Wehner: Ja - und das veranschaulicht, dass es in Deutschland derzeit zwei defekte politische Lager gibt. Wir haben kein existentes, also koalitionsfähiges rot-rot-grünes Lager, weil viele Wähler ein solches Bündnis nicht mittragen. Und mit dem Aufkommen der AfD gibt es auf der rechten Seite auch ein defektes bürgerlich-konservatives Lager. Demzufolge positionieren sich die Parteien mit allen Optionen, so dass Koalitionen über die klassischen Lager hinaus möglich werden. Baden-Württemberg macht es mit Grün-Schwarz vor, in Rheinland-Pfalz regiert ein Ampel-Bündnis, in Schleswig-Holstein eine Jamaika-Koalition. Auch die Große Koalition bleibt immer eine Option.

Sechs Parteien haben am 24. September gute Chancen auf den Einzug in den Bundestag. Können die Wähler bei dieser Ausgangslage realistisch einschätzen, welche Folgen ihr Stimmensplitting hat?

Wehner: Kaum. Denn eine Jamaika-Koalition wird in einem Koalitionsvertrag ja wahrscheinlich zu anderen Vereinbarungen kommen als eine grün-schwarze Koalition oder eine Ampel. Das macht es für den Wähler schwierig. Und die taktische Wählerei ist - abgesehen von den Überlegungen zur Erststimme - auch vor dem Hintergrund der Umfragewerte, die alle kleineren Parteien deutlich über fünf Prozent sehen, diesmal kaum notwendig.

Nur mit der AfD will niemand koalieren. Machen deren Wähler am Ende eine Neuauflage der Großen Koalition wahrscheinlicher?

Wehner: Wenn man es rein rational betrachtet und programmatische Aspekte ausblendet, könnte man sogar sagen: Wer eine Große Koalition will, muss AfD wählen. Umgekehrt ist es aber so: Wer AfD-Sympathisant ist, aber will, dass flüchtlingskritische Positionen in der Regierung vertreten sind und nicht nur in der Opposition, müsste eigentlich eher FDP wählen.

Politische Gegner werfen Angela Merkel vor, sie setze im Wahlkampf auf asymmetrische Demobilisierung. Sprich: Sie wolle die potenziellen Wähler der anderen Parteien von der Urne fernhalten.

Wehner: Angela Merkel verfolgt die Strategie, strittige Themen möglichst schon im Vorfeld des Wahlkampfs abzuräumen. Die „Ehe für alle“ ist ein Beispiel neueren Datums. Sie setzt damit ihren Wahlkampf von 2013 fort. Einen Kampf um Inhalte versucht sie zu vermeiden, stattdessen nutzt sie ihren Amtsbonus als Kanzlerin. In einer Zeit, in der unsichere Figuren in anderen Ländern Irritationen auslösen, setzt sie lieber die Botschaft „Sie kennen mich“ und wirbt als Person um Vertrauen, statt sich etwa mit dem Zehn-Punkte-Plan ihres SPD-Herausforderers Martin Schulz auseinanderzusetzen.

Diese Strategie nimmt in Kauf, dass die Wahlbeteiligung niedrig ausfällt. Aber sind hohe Wahlbeteiligungen überhaupt ein Qualitätsmerkmal für demokratische Systeme?

Wehner: Aus Sicht der politischen Bildung gibt es eine klare Antwort: Demokratie lebt von allen. Insofern ist die Legitimation von Regierungen durch Wahlen mit hohen Beteiligungen ein Zeichen, dass die Bürger die unterschiedlichen Positionen und Programme bewertet haben. Die Politikwissenschaft sieht es differenzierter: Im Rahmen der sogenannten Rational-Choice-Theorie vertreten einige Wahlforscher die Auffassung, die Menschen blieben der Wahl eher fern, wenn sie mit der Politik zufrieden sind. Einige Studien machen aber deutlich, dass es eher ganze soziale Milieus sind, die aus Verdrossenheit oder Entfremdung der Wahlurne fernbleiben. Das führt zu sozialen Verzerrungen des Wahlergebnisses.

Die mit Abstand höchsten Wahlbeteiligungen gab es in Deutschland in den 1930er-Jahren. Die Ergebnisse sind bekannt . . .

Wehner: Richtig. Und die höheren Wahlbeteiligungen der vergangenen Jahre zeigen: Die Populisten in Gestalt der AfD haben es geschafft, Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren. Aber ob das demokratieförderlich ist, kann man unterschiedlich bewerten.

Im nächsten Bundestag könnten so viele Fraktionen sitzen wie seit den 1950er-Jahren nicht mehr. Ist die Gesellschaft umso besser im Parlament abgebildet, je mehr Parteien ihm angehören?

Wehner: Je zersplitterter ein Parlament ist, desto komplizierter wird das Regieren. Deshalb hat der Gesetzgeber die Fünf-Prozent-Hürde geschaffen. Die Parteien sind Sammelbewegungen. Und sie haben ja alle den Anspruch, Volkspartei zu sein. Die Bürger bewerten das System schließlich nicht nur vom Input her, also danach, welche Partizipationsmöglichkeiten sie haben. Sie schauen auch auf den Output, also darauf, was die Politik leistet.

Das Interview führte Oliver Stortz.

Zur Person

Michael Wehner ist Leiter der Freiburger Außenstelle der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Der Politikwissenschaftler lehrt an der Universität Freiburg, der Dualen Hochschule des Landes in Villingen-Schwenningen sowie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Wahl- und Parteienforschung.