Foto: Bulgrin/ - Bulgrin/

Katja Köhler schreibt über ihre Eindrücke bei der Turn-WM in Stuttgart.

EsslingenEs lebe der Sport! Erst recht und gerade dann, wenn man ihn nicht selber ausübt und auch nicht gemütlich von der heimischen Mattscheibe aus verfolgt, sondern ihm vor Ort zusieht: so wie die Schreiberin dieser Zeilen dieser Tage bei der Turn-WM in der Stuttgarter Schleyerhalle. Als eine von etwa 7500 Zuschauern auf den ausverkauften Rängen, weit weit oben sitzend, viel zu warm an- und die Beine mangels Platz eingezogen, mit einem klebrigen Wasserbecher in der Hand, von einer ohrenbetäubenden Woge anfeuernd klatschender Hände umgeben.

Um es einmal klar zu sagen: Wegen der besseren Sicht auf das Geschehen tut man sich das nicht an. Zumal die Turnerinnen, deren Körpergröße irgendwo zwischen 137 und 151 Zentimetern variiert, nicht über die optisch vergrößernde Eigenschaft des Scheinriesen Herrn Tur Tur aus Michael Endes „Jim Knopf“ verfügen und daher aus der Entfernung noch winziger wirken. Kurzum: Die großartigen Leistungen der Athletinnen aus aller Welt kommen auf die Entfernung von, sagen wir, zwei bis drei Schwimmbadlängen nicht eben gestochen scharf herüber. (Die Tochter wird später sagen, das sei nur bei älteren Leuten so, aber das ist ein anderes Thema.) Auch auf eine Zeitlupen-Wiederholung wartet die geneigte Zuschauerin vergebens. Für Turn-Laien ist es zudem nicht einfach, die teils parallel verlaufenden Wettbewerbe an Sprung, Stufenbarren, Schwebebalken und Boden gleichzeitig im Blick zu behalten, geschweige denn US-Superstar Simone Biles unglaublichen „Triple-Double“ genauer zu analysieren: Man sieht eben ein 142 Zentimeter großes, in einem blau-weiß-rot glitzernden Trikot steckendes Muskelpaket in der Luft herumwirbeln – während zum selben Zeitpunkt eine Turnerin aus Italien ihre Übung am Schwebebalken absolviert. Was die Zuschauerin darüber nachdenken lässt, wie es sein muss, wenn man als WM-Teilnehmerin genau weiß, dass das, was man da gerade turnt, in diesem Moment kaum jemanden interessiert.

Doch trotz mancher Abzüge in der B-Note hat sich der Besuch dieser Turn-WM gelohnt, das räumt die Autorin ein. Denn das Raunen und das Aufstöhnen, die Begeisterung und das Mitleiden der Zuschauer mit den Athleten ist etwas, das kein Medium der Welt vermitteln kann. Diese Atmosphäre auf dem schmalen Grat zwischen Erfolg und Scheitern ist unvergleichlich. Deshalb, und mag er auch zu Gedankenakrobatik führen: Es lebe der Sport!