EZ-Redakteur Alexander Maier fällt auf, dass die Menschen immer häufiger nur noch an sich selbst denken.
EsslingenMit Höflichkeit und Rücksicht ist das manchmal so eine Sache: Früher wurden dicke Bücher wie die des Herrn von Knigge studiert, damit man sicher sein konnte, stilsicher und mit Anstand durchs Leben zu kommen. Heutzutage scheinen viele gar nicht mehr zu ahnen, dass es außer ihnen auch noch andere auf der Welt gibt. Und was dabei am schlimmsten ist: Manchmal ertappt man sich bereits dabei, dass man Rücksichtnahme und Respekt von anderen schon gar nicht mehr erwartet. Nur ab und an wird einem noch bewusst, wie viel sich schon verändert hat. Kürzlich war’s in einer voll besetzten Bahn: Alle Plätze sind belegt, als eine alte Dame einsteigt, die sichtlich wackelig auf den Beinen ist. Während die allermeisten wegschauen und weiter auf ihren Smartphones herumdaddeln, als ob das alles sie nichts anginge, steht man auf und bietet der Seniorin seinen Sitzplatz an. Und die ist erst mal perplex: „Das habe ich schon lange nicht mehr erlebt ...“ Wie sehr diese kleine und eigentlich ganz selbstverständliche Geste die alte Dame überrascht hat, zeigt sie für den Rest der gemeinsamen Fahrt: Immer wieder schüttelt sie ungläubig den Kopf, bedankt sich ein ums andere Mal und sagt schließlich beim Aussteigen: „Dass es so was noch gibt …“
Begegnungen wie diese erinnern uns daran, dass scheinbar Selbstverständliches für viele gar nicht mehr so selbstverständlich ist: Wenn man morgens beim Arzt das Wartezimmer betritt, freundlich grüßt und sich wundert, dass man von keinem der vielen Patienten Antwort bekommt. Wenn man anderen einen Gefallen tut, die diesen Freundschaftsdienst zwar ohne Zögern einfordern, aber nie und nimmer auf die Idee kommen, sich dafür jemals zu revanchieren. Oder wenn man für andere wieder mal die Arbeit macht, und die lassen sich ganz alleine dafür feiern.
Unsere Welt scheint mehr und mehr nach einer simplen Regel zu funktionieren: „Alle denken an sich, nur ich denke an mich.“ Und dabei vergessen wir ganz, dass wir irgendwann selbst die alte Dame oder der alte Herr sein werden, die wackelig auf den Beinen und dann ganz froh sind, wenn jemand in der Bahn aufsteht und ihnen einen Platz anbietet. Spätestens dann mag sich der eine oder andere wieder daran erinnern, dass es einst jenen Herrn von Knigge gab, der uns gelehrt hat, dass es uns allen besser geht, wenn jeder den anderen mit Rücksicht, Höflichkeit und Anstand begegnet.