Quelle: Unbekannt

Von Thomas Krazeisen

Nach der kollektiven Stuttgart-21-Erschöpfung durchzieht ein frischer bürgerschaftlicher Geist die Schwabenmetropole: Den Wut- folgen die Mutbürger. „Think big“ heißt die Devise eines neuen Vereins, dessen Name Programm ist. Der „Aufbruch Stuttgart“, initiiert von prominenten Kulturschaffenden und Architekten, will die Landeshauptstadt attraktiver machen - jetzt startete das Projekt. Darum geht es: Visionen für eine menschengerechte Stadt zu entwickeln, die Zukunft der Stadt von morgen und übermorgen zu denken und ganz konkret auch Bausünden von gestern - Stichwort Stadtautobahn - zu tilgen. Das neue bürgerschaftliche Engagement ist einerseits eine Reaktion auf den Umstand, dass die öffentliche Hand im Dauerkrisenmodus festzustecken scheint. Es zeugt aber auch von einem veränderten Verständnis von bürgerlicher Teilhabe. „Die Stadt ist unser Schicksal“, hat vor 100 Jahren der schweizerisch-französische Architekt und Städteplaner Le Corbusier formuliert. Heute wollen die Städter ihr Schicksal wieder verstärkt selbst mit in die Hand nehmen, „von unten“ Impulse bei der Stadtplanung und -entwicklung setzen und nicht nur auf städtische Vorgaben reagieren oder Fragebögen beantworten.

In Esslingen gäbe es für eine solche Bottom-up-Bewegung - auch jenseits des Flächennutzungsplans - ebenfalls genügend Themen. Nun wird man hier, anders als vielleicht demnächst in Stuttgart, verkehrstechnisch das Rad der Zeit kaum zurückdrehen können. Die Ringstraße wird zwar saniert, aber auf absehbare Zeit wohl kaum untertunnelt. Dafür hat Esslingen bereits eine großartige „Kulturmeile“. Zu ihr zählen die Pfleghöfe, die gewissermaßen zur DNA der ehemaligen Reichsstadt gehörten. Diese einstigen Kloster-Immobilien stehen für die produktive Nähe von Geist und Geld in der hochmittelalterlichen „Gründerzeit“ Esslingens. In einem dieser herausragenden Baudenkmäler, dem ehemaligen Bebenhäuser Pfleghof, ist die Esslinger Stadtbücherei untergebracht. Sie ist, erst recht in digitalen Zeiten, weit mehr als eine renovierungsbedürftige Bücher- und Medienverwahranstalt: nämlich ein unverzichtbares Begegnungs- und Kommunikationszentrum. Der jetzige Standort ist - auch atmosphärisch - ein Glücksfall für die kulturelle, interkulturelle und intergenerationelle Selbstvergewisserung und Selbstverständigung der Esslinger Stadtgesellschaft. Man muss nicht gleich das Stuttgarter Modell kopieren - aber kapieren, dass es sich beim Thema Partizipation lohnt, „größer zu denken“ und eine neue Erzählung dieser großen, alten Stadt zu wagen. Ihre grandiosen historischen Bühnen wollen zeitgemäß bespielt werden - auf keinen Fall darf dieses urbane Pfund durch Kleingeist, kurzfristiges Renditedenken und Intransparenz verspielt werden.