Singapur: Bei den Olympischen Jugendspielen mit anderen Teilnehmern. Quelle: Unbekannt

Von Karla Schairer

Esslingen/Stuttgart - Warum er denn nicht Erster beim Schurwaldlauf geworden sei, lautet die eigentlich scherzhaft gemeinte Frage an Hazim Al Ahmad, der auf der Zehn-Kilometer-Strecke in diesem Jahr lange führte und erst an der letzten Steigung einbrach. In 34:30 Minuten kam er ins Ziel. „Ich hatte nicht genügend Zeit zu trainieren“, sagt er und zuckt fast entschuldigend mit den Schultern. Als ob er seine Zeit verbummelt hätte. Aber Hazim Al Ahmad war auf der Flucht. Vor dem Krieg. Nach Deutschland. In ein besseres Leben.

Der 23-jährige Syrer ist seit Ende April in Stuttgart. Er lebt in der Flüchtlingsunterkunft in der Tunzhofer Straße in Stuttgart, sein jüngerer Bruder Hamouda ist in Zuffenhausen untergebracht. Dieser ist noch nicht einmal 17, wirkt aber viel älter. Er soll übersetzen, denn Hazim kann nur ein wenig Englisch, Hamouda hat dagegen schon den ersten Deutschkurs hinter sich. Auf drei Sprachen - Englisch, Deutsch und Arabisch - erzählen die beiden ihre Geschichte. Schengen-Visa, Bescheid und Ausbildung - diese drei Worte kennt Hazim auf Deutsch. Die ersten zwei Begriffe hat Hazim als Stationen schon gemeistert.

Flucht in den Libanon

Hazim war in Syrien Profiläufer, seine Spezialität sind die zehn Kilometer, Hamouda dagegen sei kein Läufer sagt er von sich. „Lieber Fußball.“ Vermutlich ist der Jüngere auf seinem Weg nach Deutschland auch schon genug gelaufen. Genug für ein ganzes Leben. Mit den Eltern, den zwei anderen Brüdern und der kleinen Schwester lebten die beiden in Deir ez-Zor, eine Stadt 400 Kilometer östlich von Aleppo. Hazim beginnt 2009 mit dem Laufen, wird syrischer Meister über die zehn Kilometer, ist bald im syrischen Nationalteam und 2010 bei den Olympischen Jugendspielen in Singapur - eines von vielen Ländern, das er in seiner Profizeit besucht. „Davor habe ich gar keinen Sport betrieben“, sagt Hazim. Er möchte Fotos zeigen. In seiner Tasche hat er einen Laptop. Es ist eines der neuesten Betriebssysteme auf dem Rechner aufgespielt, die Menüprogramme und Dateien sind teilweise auf Englisch, teilweise auf Arabisch. Hazim öffnet einen der Ordner mit englischer Beschriftung. Die Fotos sind aus den vergangenen sieben Jahren. Hazim als Teenager auf einer Tartanbahn in Syrien. Hazim in Jordanien, in Sri Lanka, bei asiatischen Meisterschaften. Hazim Arm in Arm mit einem chinesischen Jugendlichen, kurz nach dem Olympischen Wettbewerb im Gehen, bei dem Hazim Elfter wurde. Das Foto ist leicht verschwommen, die Erinnerung nicht. Hazim muss lachen, als er sich so jung sieht. Er fasst sich ans Kinn. „Noch kein Bart“, sagt er. Einige Jahre gibt es keine Fotos von dem Läufer Hazim. 2012 flüchtete die Familie in den Libanon. „Unser erstes Haus in Syrien war kaputt, beim zweiten gab es immer Feuer und Militär. Wir hatten Angst, dass sie uns mitnehmen“, erklärt Hamouda. „Wir wollten nicht kämpfen.“ Als Hazim und sein älterer Bruder bei einer Busfahrt gekidnappt wurden - „sie haben uns mit einer Pistole bedroht und meinen Vater angerufen, er solle zahlen“ - da verließ die Familie ihre Heimat. Der damals zwölfjährige Hamouda brach die Schule ab und kellnerte, verkaufte Flaschen. Hazim studierte nicht mehr wie in Syrien Jura, sondern arbeitete in einem Büro, 16 Stunden am Tag. Keine Zeit zum Laufen. Der große Bruder war Mechaniker, legte sich mit seinem Chef an und landete im Gefängnis. „Das Leben im Libanon ist für Syrer sehr hart“, sagt Hazim. Sein Bruder wird konkreter. „Sie schlagen uns, die Polizei schlägt uns, sie nehmen ihre Gürtel, Messer und schlagen uns einfach. Du bist syrisch, wir schlagen dich, du bist syrisch, wir töten dich, egal“, sagt Hamouda. Ihm reichte es als Erstem. Ende 2015 ging er los, 25 Tage war er von der Türkei nach Deutschland unterwegs. „Ja, mit dem Boot“, sagt Hamouda und lacht. Es ist eines dieser Lächeln, die das Gesagte weniger schwer wirken lassen sollen. Dabei ist es verdammt schwer: Nach Hamouda und dem älteren Bruder, der nun in Norwegen lebt, packte über Nacht die Mutter die beiden jüngeren Geschwister und machte sich ebenfalls auf den Weg über die Türkei, Griechenland und schließlich nach Spanien - ohne dem Vater ein Wort davon mitzuteilen. „Meine Mutter konnte nicht mehr“, sagt Hamouda.

Hazim zeigt Fotos von seiner Mutter und den beiden kleinen Geschwistern. Und dann ein Foto, das ihn beim Zieleinlauf des Beirut-Marathons im November vergangenen Jahres zeigt. 3:21,48 Stunden zeigt die Uhrzeit an. Die Zeit ins Glück.

„Es gab ein Programm: Wer gewinnt, bekommt die Möglichkeit, am Rom-Marathon teilzunehmen“, übersetzt Hamouda für seinen großen Bruder. Rom bedeutete Europa. Und ein Schengen-Visa, ausgestellt für acht Tage. Das reichte. Hazim trainierte drei Monate. Mehr Zeit hatte er nicht. Von 10 auf 42,195 Kilometer. „Ich weiß auch nicht, wie ich das geschafft habe“, sagt Hazim und lächelt. Wieder eines dieser Lächeln: Mit zahlreichen Verletzungen an Hüfte und Beinen kam er im Ziel an, mehr tot als lebendig. Das war egal. Laufen musste er nun nicht mehr. Im April stieg er in den Flieger nach Rom zu einem Marathon, an dem er nicht teilnahm. Stattdessen flog er weiter nach Mailand und von da nach Stuttgart. Am Flughafen wartete Hamouda auf ihn.

Ziel: Olympia 2020

Jede Nachricht aus der Heimat schmerzt. „Neulich am Hauptbahnhof habe ich Bilder von meiner Heimatstadt gesehen“, sagt Hamouda. Er stockt. „Wir wollen es nicht sehen, aber natürlich schauen wir trotzdem hin.“ Nur der Vater ist noch im Libanon. Er ist herzkrank, eine anstrengende Flucht oder gar ein Marathon kommen für ihn nicht in Frage. Hazim möchte ihn nach Stuttgart holen. „Dann suche ich eine Wohnung für ihn, Hamouda und mich“, sagt er. „Wenn ich nicht studieren kann, möchte ich eine Ausbildung machen.“

In Deutschland hat Hazim Al Ahmad wieder Zeit zum Laufen. Kaum angekommen, nimmt er im Juli beim EZ-Lauf für das LIMA-Theater teil, er wird mit 37:37 Minuten 17. Er trainiert täglich und läuft dazu am Neckar entlang. Mit Arne Gabius, dem Mittel- und Langstreckenläufer, deutscher Rekordhalter über die Marathondistanz. Der deutsche Topathlet coacht den Syrer, versorgt ihn mit Trainingsplänen und meldet ihn zu Läufen an. Wie er Arne Gabius denn kontaktiert habe? „Whatsapp.“ Hazim hält grinsend sein Smartphone in die Höhe. „Ich habe Arne geschrieben, dass ich 23 Jahre alt bin, aus Syrien komme und bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio antreten möchte.“ Für welches Land? „Das ist egal“, sagt Hazim. Und fügt hinzu: „Vielleicht Deutschland.“