Quelle: Unbekannt

Von Karla Schairer

Esslingen - „Kiai!“ - Der Kampfschrei hallt durch die Sporthalle des Georgii-Gymnasiums. Die Stimmen sind hell, es sind Kinder, die jüngsten gerade mal fünf Jahre alt, die mit ernster Miene die Beine und Hände fliegen lassen. „Schlafen deine Füße heute?“, spornt der Trainer die kleinen Kämpfer an. Die Blicke werden trotziger, der gelbe Gürtel noch einmal fester um den Karate-Gi, den weißen Leinenanzug, festgezogen.

Jeronim Etemi schaut ihnen lächelnd zu. Der 17-Jährige hat auch einmal so angefangen, nun trägt er den dritten braunen Gürtel - und fährt zur Karate-Junioren-EM ins bulgarische Sofia. „Die sehen nur so niedlich aus“, sagt Etemi mit Blick auf den Nachwuchs. Er deutet auf eine Fünfjährige: „Das Mädchen ist Landesmeisterin der U 8, sie hat alle abgeräumt.“ Alle abgeräumt hat auch Etemi, zumindest in Baden-Württemberg. Seit 2012 ist er ungeschlagener Landesmeister, 2014 war er deutscher Meister, bei der EM in Zürich 2015 belegte er den siebten Platz. „Jetzt soll es auf jeden Fall fürs Podest reichen“, sagt er zur bevorstehenden EM, die vom 17. bis 19. Februar stattfindet.

Familienprojekt

Seit mehreren Monaten bereitet er sich auf die europäischen Wettkämpfe vor. Zwei Stunden pro Tag trainiert er, am Wochenende öfter. Dazu lernt der Elftklässler des Schelztor-Gymnaiums für sein Abitur im nächsten Jahr. „Ich habe nicht die Zeit, die gleiche Kacke wie meine Freunde zu bauen“, sagt der 17-Jährige scherzend zu seiner knappen Freizeit. Die sportliche Disziplin kommt dem Schüler aber beim Pauken zugute: „Ich kann auch mal vier bis fünf Stunden durchlernen.“ Zur Vorbereitung gehören feste Schlafenszeiten und eine gesunde Ernährung, um die sich seine Mutter kümmert. Um in seine Gewichtsklasse bis 76 Kilogramm „zu passen“, hat der Esslinger, dessen albanische Familie aus Mazedonien stammt, bereits sechs Kilogramm abgenommen. „Dann habe ich genug Spielraum für Muskelmasse“, sagt er, „und brauche vor dem Wettkampf nicht zu hungern und auszuwässern.“

Großen Anteil an der Vorbereitung haben auch sein zwei Jahre älterer Bruder und Trainingspartner Laurent und sein Vater Dzemi Etemi. Letzterer gründete im Jahr 2006 den Verein Shotokan Karate Esslingen, eine Abteilung der Turnerschaft Esslingen. Der Vater, der mittlerweile den 4. Dan trägt, ließ es seinem jüngsten Sohn offen, welchen Sport er einmal macht. „Ich habe Fußball probiert, beim TSV RSK Esslingen, weil das alle meine Freunde gemacht haben“, erzählt der Karateka. „Das war aber nicht so meins, zugucken im Fernseher war besser.“ Dann sah er aber mit acht eine Reportage über Rafael Aghayev, einen Aserbaidschaner, mehrfacher Europa- und Weltmeister. „Er hat das Karate revolutioniert, er ist der Maradona des Karate“, schwärmt Etemi. „Er hat zum Beispiel zum ersten Mal Sprint-Übungen eingebaut und das Sportkarate begründet.“

Mentale Stärke

Beim Sportkarate teilen sich die Disziplinen in Kumite, den Kampf, wie ihn Etemi betreibt, und die Kata, ein stilisierter und choreografierter Kampf gegen imaginäre Gegner. Im Kumite müssen wie in anderen Kampfsportarten Punkte gesammelt werden, um zu gewinnen. Bundestrainer Thomas Nitschmann, der ihn in die U-18-Nationalmannschaft berufen hat, lobt Jeronim Etemis Taktik und Cleverness. „Er findet es gut, dass ich mich nicht beeindrucken lasse, wenn mein Gegner Punkte macht“, sagt Etemi. „Taktische Fehler und das Mentale sind auf diesem Niveau entscheidend. Deshalb rede ich viel mit meinem Vater“, sagt Etemi. „Gegen wen ich kämpfe, ist egal.“ Er schaut sich deshalb vorher auch nie die Gegnerlisten an. In Sofia wird er wohl auf einige Kontrahenten treffen, gegen die er schon 2015 bei der EM gekämpft hat. „Aber da ist keiner mehr, den man so einfach weghauen kann.“ Konkurrenz sei wichtig: „Erst wenn alle anderen auch auf ihrem Höhepunkt waren, ist man auch wirklich der Beste.“

Mit der Weiterentwicklung des Karate ist die Sportart seit kurzem nun auch olympisch. Das eröffnet den Kämpfern nicht nur finanziell neue Möglichkeiten - „Jetzt fließen auch Gelder vom Deutschen Olympischen Sportbund und wir dürfen nun auch am Olympia-Stützpunkt trainieren“ - sondern macht auch die Träume größer. Sollte sich Etemi bei der EM gut anstellen und auch noch zur WM im November fahren, könnte er für den Olympia-Kader nominiert werden. Qualifikationsturniere finden dafür in Dubai, Ägypten, Marokko, Paris und womöglich Brasilien und Japan statt. Ein netter Nebeneffekt: „Ich will viel von der Welt sehen“, sagt der Jugendliche. Nach der EM belohnt er sich deshalb mit einer Reise zur Tante nach New York. „Danach setze ich mich mit meinen Eltern zusammen und berate, wie es weitergeht. Denn die Qualifikation für Olympia findet während der Abi-Zeit statt. Sollten die Noten abstürzen, hat die Schule auf jeden Fall Vorrang.“

Studium, Ausbildung, Karate-Karriere - Etemi hält es mit der weiteren Zukunft wie im Kumite: „Ich schaue Schritt für Schritt, wie es läuft. Es ist nicht schön, wenn ein Traum platzt.“

Wenn sich aber jener Traum in Bulgarien erfüllen sollte, dann hat Jeronim Etemi alle abgeräumt - und ist Europameister.