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Von Karla Schairer

Plochingen – Jonas sieht sein erstes Handballspiel. In der Baden-Württemberg Oberliga spielt der TV Plochingen gegen den TV Sandweier. „Ich kenne keine Regeln“, stellt der 32-Jährige gleich am Anfang klar. „Im Fußball kenne ich mich besser aus.“ Wie viel Jonas Bescheid weiß und auch das Handballspiel selbst sind an diesem Abend aber nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, dass und warum Jonas überhaupt in der Sporthalle ist. Jonas und 15 andere Mitarbeiter der Behinderten-Werkstätten Esslingen-Kirchheim (WEK) sind vom TV Plochingen zu diesem Spiel eingeladen, initiiert von Abteilungsleiter Dieter Hermann und Volker Rümmele, TVP-Mitglied und Mitarbeiter bei den WEK im Bereich Arbeitssicherheit.

Inklusion nennt sich der Begriff, der über diesem ungewöhnlichen Betriebsausflug steht. Und Inklusion ist für den TVP und die WEK erst einmal ein Aufwand. Damit Jonas’ Rollstuhl in die Halle kommt, muss das Spiel der zweiten Mannschaft unterbrochen werden. Denn die Plochinger Schafhausäckersporthalle ist nicht behindertengerecht, die Rollis müssen über einen Notausgang über das Spielfeld gefahren werden und bilden vor der Tribüne eine kleine Fankurve, die WEK-Kurve.
Auch Behindertentoiletten gibt es nicht. Deshalb sollten alle aus der WEK-Gruppe vor dem Spiel nochmal im Wohnheim aufs Klo. Man merkt: Spontan geht Inklusion nicht. Deshalb wurden schon Wochen vor der Aktion die WEK-Mitarbeiter eingeladen, dementsprechend lange freuen sie sich darauf. Zwei Johanniterbusse haben die WEK-Mitarbeiter und ihre Betreuer von ihren Wohnheimen abgeholt und fahren sie auch wieder nach Haus.

„Dieser Ausflug ist etwas Besonderes“, sagt Jonas. Er hilft bei der WEK ab und zu in der Verwaltung beim Telefondienst aus, ansonsten fertigt er Teile für Festo. „Wir haben sonst kaum Möglichkeiten herauszukommen. Wir können mal mit zwei bis drei Leuten in die Stadt, Eis essen, aber es kommt auf den Grad der Behinderung an“, erzählt Ulrike Burkhardt, eine der Betreuerinnen. „Deshalb bin ich froh über das Angebot. Es ist wichtig, mal in der Realo-Welt zu sein, nicht in der abgeschotteten Welt. Es ist leider nicht immer einfach, mittendrin zu sein. Dabei sollte es ganz selbstverständlich sein.“

Damit es das wird, haben Rümmele und Abteilungsleiter Hermann die Aktion gestartet. Hermann war 1984 der erste Zivi bei der Lebenshilfe Esslingen, die neben dem Verein für Körperbehinderte Träger der WEK ist. Damals war Burkhardt Hermanns Chefin. Sie winkt ab. „Ach was, Chefin! Ich war damals ja selbst noch im Anerkennungsjahr“, sagt die zupackende Frau. „Plochingen ist Inklusions-City, aber man kriegt zu wenig davon mit“, sagt Hermann. Was in Esslingen das Kaffeehaus Sonne ist, ist in Plochingen das Café Morlock. Zudem gibt es den Lebensmittelmarkt „Um’s Eck“, ebenfalls integrativ. In allen dreien sind WEK-Mitarbeiter angestellt.

Einer der Mitarbeiter im Café Morlock ist der geistig behinderte Jochen. Er ist Hockey- und Fußball-Torhüter bei Teams von den WEK. Aber im Handball könnte er sich das nicht vorstellen: „Der Ball kommt zu schnell“, sagt der 52-Jährige. Aber genau das macht die Spannung im Handball aus, die gefällt ihm. Jonas ebenso. Was ihm an Wissen fehlt, macht er an Begeisterung wieder wett. Fouls, Pfiffe, Siebenmeter, Getrommel – Hauptsache Action. Dann lacht er, kneift die Augen zusammen, klatscht und reibt die Hände. Neben Jonas steht Sandros Rolli. Sandro scheint den Ball an diesem Abend anzuziehen. Gleich mehrmals landet der harzige Ball in seinem Schoß. Sandro erschrickt nicht, er lacht sein breites Lachen. „Jetzt hat er was zu erzählen“, sagt ein Betreuer.

Für Volker Ditzinger ist es nicht das erste Handballspiel. Der WEK-Geschäftsführer war früher bei den Maltesern und da bei den Spielen im Einsatz, jedes zweite Wochenende. Wenn Jonas Fragen zu den Regeln hat, kann er ihn fragen. Beide sind natürlich für Plochingen. „Das sind auch unsere, die WEK-Farben. Blau-Weiß“, sagt Ditzinger. „Ich freue mich für unsere Leute, und die freuen sich auch total. Das sieht man, wenn man sie kennt, sie sind richtig gespannt.“ 400 Menschen mit Behinderung hat Ditzinger bei den WEK angestellt. Die kenne er jetzt nicht alle, die Handballspielbesucher aber schon. Er siezt sie, seine Mitarbeiter. Ditzinger weiß: „Das hier ist ein Riesenaufwand, die Fahrdienste mit den Johannitern hierher, die Betreuung.“ Aber es ist wohl der einzige Weg, um aus der Isolation herauszukommen. Und durch die Arbeit. 30 Prozent der WEK-Mitarbeiter arbeiten bei externen Firmen, beispielsweise für den Elek-trowerkzeuge-Hersteller Metabo in Nürtingen, Kraftverkehr Nagel, in den erwähnten Cafés und dem Supermarkt.

Das Wort Inklusion mag Ditzinger nicht: „Integration gefällt mir besser. Wir versuchen, unsere Leute dort hinzubringen, wo die Menschen leben.“ Zum Beispiel in der Schafhausäckersporthalle, wo der TVP ein überraschend kampfstarkes Spiel abliefert, obwohl es eigentlich nur noch um die Platzierung geht.
Die riesigen, muskulösen Männer auf dem Feld, Athletik pur – daneben Jonas und Sandro in ihren Rollstühlen, von solchen sportlichen Leistungen weit entfernt. Der Kontrast ist hart. Aber von der Mitleidsschiene will Ditzinger nichts hören. „Unsere Leute mögen ihre körperlichen Beschwerden haben, aber ich wette, sie sind lustiger“, sagt er mit einem Augenzwinkern. „Das, was sie aus ihren Möglichkeiten machen, ist fantastisch.“ Er zeigt auf Sandro. Dieser ist eigentlich im Förderbereich, in dem die Menschen so schwere Beeinträchtigungen haben, dass sie eigentlich nicht arbeitsfähig sind. Aber Sandro wollte arbeiten. „Er hat eine regelrechte Sitzblockade vor meinem Büro veranstaltet“, erzählt Ditzinger, der schließlich eine Arbeit für Sandro fand: Kabelbinder konfektionieren. Da Sandro nicht zählen kann, hat er eine Holzplatte mit zehn Bohrungen. In die Löcher steckt er die Kabelbinder und wenn alle voll sind, weiß Sandro, dass es zehn Stück sind. Aber Sandro ist noch nicht zufrieden. „Er verdient zu wenig, findet er“, sagt Ditzinger lachend. „Viel zu wenig“, wirft Sandro ein. Beide lachen.

Tatsächlich erhalten Sandro und seine Kollegen nur ein Taschengeld, da sie Sozialhilfe bekommen.
Jochen beugt sich an Jonas’ Kopfstütze vorbei, um einen Strafstoß für den TVP besser sehen zu können. Das Spiel ist spannend. Weder die Plochinger Handballer noch die Gäste aus Sandweier können sich so richtig absetzen. Jochen braucht Nervennahrung. Wie gut, dass es die Käse- und Wurstbrötchen gibt, die hinter der WEK-Fankurve in einem Geräteraum neben Getränken für die WEK-Gruppe aufgebaut wurden. Sandros Nebensitzerin Fatima, die das Spiel mit ihrem Handy filmt, bekommt von Burkhardt eine schon geöffnete Fanta gereicht. Sandro bekommt seine Cola in sein Trinkgefäß mit Strohhalm umgefüllt.

In der Pause – es steht 13:13 – tauschen sich Betreuer, TVP-Verantwortliche und Behinderte aus. „Das war spannend“, sagt Jonas. Zu den teilweise echt harten Fouls sagt er lakonisch: „Das kenne ich aus dem Fußball, das muss man als Spieler gewohnt sein.“ Jochen ist da schon ein bisschen empfindlicher: „Manche Fouls waren echt brutal“, sagt er und ist sich immer sicherer, in diesem Leben kein Handball-Torwart mehr zu werden. Alina und Jasmin sind Dauergäste in Plochingen. Bei jedem Heimspiel sitzen die beiden 12-Jährigen auf der Kindertribüne, die an diesem Tag der WEK-Gruppe ein Stück weichen musste. Die beiden Jugendhandballspielerinnen schauen ab und zu verstohlen zu Sandro, Jonas und Co. „Ungewohnt“, findet Jasmin die besonderen Zuschauer. „Normal“, sagt Alina dazu. Sie habe schon mit der Schule ein Behindertenheim besucht. Der TVP ist wohl der einzige Verein in der Region, der eine extra Kindertribüne hat. Auch das zeigt, dass der TVP ein Verein für alle sein will.

Dass in der Pause die beiden Torhüter Marco Schwarz und Johannes Klimmel die Nachwuchshandballer bespaßen, es die Kindertribüne und nun sogar eine WEK-Fankurve gibt, die Kleinen schon trommeln wie die Großen und sich darum streiten, wer der Wischer sein darf, dann ist das Familie. Und die feuert ihr Team in der letzten Minute an, um den nächsten Heimsieg zu holen. Als das Publikum auf der Tribüne aufsteht, steht auch die WEK-Gruppe auf. Nach dem 30:25-Sieg kommen die Plochinger Spieler zum Abschlagen vorbei. Jonas reibt sich die Hände vom Harz, eine klebrige Erinnerung. „Für mich als Lehrer ist Integration ein immer wichtiges Thema“, begrüßt TVP-Spielertrainer Daniel Brack die Aktion. Und Hermann resümiert kurz und knackig nach dem Spiel: „Das machen wir natürlich wieder.“ Die Plochinger Handballfamilie dürfte damit ein Stück größer geworden sein.