Als kleiner Junge sammelte OA Krimmel Briefmarken - doch die Postkarten, auf denen sie klebten, faszinierten ihn viel mehr. Aus seiner Sammlung hat der 48-Jährige nun ein Buch gemacht. Foto: Schütze Quelle: Unbekannt

Von Jan-Philipp Schütze

Stuttgart - Die Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs unter die Erde ist wahrlich ein kühnes Unterfangen. Noch viel kühner aber erscheint jene Vision, die im Jahr 1930 als Motiv auf einer Postkarte verewigt wurde: In einem futuristischen Stuttgart thronen über den Dächern der Stadt eine Raketenflugzeug-Haltestelle und ein Zeppelin-Bahnhof, von dem aus ein Riesenluftschiff zu einem Direktflug nach New York abhebt. Mit seiner Illustration nahm der Künstler das zu jener Zeit grassierende Zeppelinfieber auf die Schippe, das später im Nationalsozialismus ein jähes Ende finden sollte.

Die Ansichtskarte hat indes die Zeit überdauert und ist zusammen mit vielen anderen kuriosen und historischen Stadtansichten im „Stuttgarter Postkartenbuch“ von OA Krimmel versammelt, das im Belser Verlag erschienen ist. Der 48 Jahre alte Designer, Autor, Art-Director und Geschäftsführer der Agentur i_d buero widmet sich darin einer ganz persönlichen Leidenschaft, die schon früh ihren Anfang nahm. Alles begann, als Krimmel als etwa elfjähriger Junge die Briefmarkensammlung seiner älteren Brüder überlassen bekam. Weil sein Taschengeld nicht für Neuanschaffungen ausreichte, mussten seine Eltern und Verwandten ihre Korrespondenz für ihn sammeln. „Die Briefmarken fand ich spannend, aber viel spannender war es, die beschriebenen Postkarten zu lesen“, erzählt Krimmel. Doch nicht nur die altertümlichen Schriften und Formulierungen taten es ihm an, sondern auch die Motive. Und so wurde aus der Passion für Briefmarken eine für Postkarten. „Mir war klar, dass ich nicht alles sammeln kann, also habe ich mich auf Motive mit Stuttgart-Bezug beschränkt.“ Vielen Gebäuden, die er auf den Karten sah, konnte er jederzeit mit dem Fahrrad einen Besuch abstatten.

Mit der Zeit ließ das Sammelfieber nach, die kleine, aber feine Sammlung fristete in Schuhkartons und Karteikästen verstaut im Keller seines Elternhauses ein eher stiefmütterliches Dasein. „Erst später bin ich wieder darüber gestolpert“, sagt Krimmel. Die Recherche für zwei Bücher über Stuttgart entfachte das Interesse an den historischen Stadtansichten neu. Die interessantesten und skurrilsten Karten sind nun in Krimmels Buch verewigt, thematisch gegliedert und mit amüsant-erklärenden Texten versehen. „Aus der Sammlung sind fast magisch die einzelnen Kapitel entstanden“, sagt Krimmel.

So widmet sich das erste Kapitel „Verschwundene Schönheiten“ einem Stuttgart, das es in dieser Form nicht mehr gibt. Eine Postkarte von 1908 zeigt das prunkvolle Café, das im Parterre des Königin-Olga-Baus beheimatet war, der den Zweiten Weltkrieg nicht überdauern sollte. Auch der schmucke Leonhardsbau an der Hauptstätter Straße mit seinen Ladengeschäften und Wohnungen ist längst dem City-Ring gewichen, und dort, wo im Jahr 1962 Straßenbahnen an der Planie entlangzuckelten, steht heute das Kunstmuseum. Zu sehen ist auch, wie sich der „Große Graben“, den Friedrich I. einst als eine seiner ersten stadtbildprägenden Großtaten vor den Stadtmauern der Altstadt aufschütten ließ, zur Shopping-Meile Königstraße wandelte, die heute als eine der längsten Einkaufsstraßen Europas gilt. Zum Vergleich hat Krimmel vielen historischen Ansichten Fotos aus heutiger Zeit gegenübergestellt.

Besonders fasziniert Krimmel, wie manche Postkarten auf wenig Raum kleine Geschichten erzählen. So wie jene von der Magd ohne Unterrock. Diese soll sich, so ist es überliefert, anno 1837 nachlässigerweise ohne sittlich korrekte Unterwäsche zum Wasserholen aufgemacht haben. Als sie am Marktbrunnen ihren gefüllten Wasserzuber über den Kopf hob, rutschte ihr durch die Körperspannung ihr Rock von der Taille herunter. Den Anblick der nackten Magd soll ein dicker Stadtrat so lustig gefunden haben, dass er an Ort und Stelle an den Folgen eines Lachanfalls verstarb. Die Bevölkerung wiederum amüsierte sich derart über die Erzählung, dass aus ihr dutzende Postkartenmotive entstanden.

Seit der Veröffentlichung seines Buches erhält Krimmel Zuschriften von Lesern, die auf ihrem Dachboden noch alte Postkarten aufbewahrt haben und sie ihm für seine Sammlung anbieten wollen. In solchen Fällen lehnt der 48-Jährige aber dankend ab. „Für mich ist das Thema jetzt erstmal abgeschlossen“, sagt er. Seine Sammlung hat er dem Stadtmuseum Stuttgart überlassen, das im nächsten Jahr eröffnet wird und wo die Postkarten später einmal in der Ausstellung zu sehen sein könnten.