Gestalter Gerhard Wollnitz hat die neue Geh-Klasse konzipiert - und hofft auf zahlreiche Nachahmer. Quelle: Unbekannt

Von Andrea Eisenmann

Stuttgart - „Was isch au jetzt des?“, fragt ein grauhaariger Herr in breitem Schwäbisch. Mit zusammengezogenen Augenbrauen mustert er das weiße Gefährt, das auf einem Parkplatz in der Tübinger Straße vor einem Café geparkt ist, stellt dafür eigens die Einkaufstasche auf dem Gehsteig ab. Keine Frage, es erinnert an ein Auto: Vier Räder, Sitzmöglichkeiten, Öffnungen zum Einsteigen auf der rechten Seite, dazu vorne und hinten jeweils zwei Lichter. Das Dach ziert eine Mini-Rundumleuchte in Orange, die bei Bedarf eingeschaltet wird. Bei Bedarf - das heißt, wenn sich das Gefährt via Muskelkraft auf Stuttgarts Straßen bewegt - was alle paar Tage geschieht. Dafür gibt es extra eine Deichsel, an der der Wagen gezogen wird. Der Rentner beugt sich über die vermeintliche Motorhaube. Dort klebt ein Zettel mit weiteren Informationen zur neuen „Geh-Klasse“. Nach ein, zwei Minuten lächelt er, mustert das Gefährt erneut - als ob er es jetzt mit anderen Augen sähe - nimmt seine Einkaufstasche und geht weiter.

Gerhard Wollnitz kennt die unterschiedlichen Reaktionen, die sein XXL-Handwagen auslöst. Bei Kindern, sagt er, müsse man nicht lange warten, bis diese hineinklettern. Drei, zwei, eins, der Wagen ist meins, wird das Fahrzeug in Windeseile erobert. Andere hingegen sind vorsichtiger. Die Hemmschwelle, einen fremden Wagen zu betreten, ist spürbar und sichtbar - trotz Einladung im Innern des Wagens, sich darin niederzulassen und ein wenig zu plaudern. Dennoch ist der Wagen zu einem beliebten Treffpunkt geworden.

Ein Jahr liegt der Bau des „kleinen Parkraumwunders“ bereits zurück. Ursprünglich hatte der Stuttgarter Gestalter an einen landwirtschaftlichen Anhänger gedacht. Diesen wollte sich vor die Parterrewohnung stellen und als Farbtupfer mit Geranien schmücken. Der Anhänger sollte eine Art beweglichen Ausgleich schaffen - für den nicht vorhandenen Garten. Allerdings machte die Rechtslage dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung. Stattdessen entstand die neue Geh-Klasse. Die Idee hinter dem selbst gebauten Handwagen: Die Bürger erobern sich in diesem ihren Platz im öffentlichen Raum zurück - einen Platz, den sie einstmals hatten, der dann aber einer autofixierten Verkehrsplanung samt Parkplatzwahn zum Opfer fiel. „Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts verdrängten Kraftfahrzeuge zunehmend die Menschen, die sich seither auf viel zu schmalen Gehwegen zwischen Hauswänden und den am Straßenrand abgestellten Privat-Pkw hindurchquetschen“, ist der Stuttgarter überzeugt. Eine Folge der „überkommenen Vorstellung“: Mehr als zwei Drittel der Anwohner würden diskriminiert. „Vor ein Stadthaus mit 15 Metern Länge passen etwa drei Autos in eine Reihe, in dem Haus wohnen aber zehn Parteien“, rechnet er vor. Letztere hätten somit Pech beziehungsweise zahlen brav Miete für einen Tiefgaragenplatz. „Das hat etwas von sozialdarwinistischen Verteilungskämpfen, die wir eigentlich überwunden haben.“

Gerhard Wollnitz hat vor vier Jahren sein Auto verkauft und ist seither vor allem mit dem Fahrrad unterwegs. Das Thema Stadtplanung ist für den Gestalter mit eigenem Atelier im Stuttgarter Westen längst zu einem Steckenpferd geworden. Er wird zu entsprechenden Veranstaltungen eingeladen, zitiert Verkehrsexperten wie Herman Knoflacher aus dem Effeff. Immer wieder verweist Wollnitz auf Metropolen wie New York, Zürich, Wien oder London. In diesen sei es gelungen, den öffentlichen Raum für die Allgemeinheit zurückzuerobern. In diesen sei es geglückt, Strukturen abzubauen, die die Menschen dazu einladen, ein Auto zu benutzen. Auch Stuttgart müsse sich in diese Richtung bewegen, um dem „Kraftverkehrsinfarkt“ vorzubeugen. Und dazu soll das „Parkraumwunder“ als „trojanisches Pferd“ einen Anstoß zum Umdenken in den Köpfen geben.

Die Idee stößt bereits auf Nachahmer. In Köln könnte bald das erste „Baby“ des Holzwagens in den Straßen zu finden sein: Eine Gruppe erwägt den Nachbau des nahezu schadstofffreien Modells, ein städtischer Zuschuss wurde für den Bau in Aussicht gestellt. Und die Pläne, verspricht Wollnitz, „bekommen sie gratis dazu“.

Technische Daten

200 Kilogramm Leergewicht, 3,60 Meter kurz, 1,80 Meter breit und 1,80 Meter hoch. Tempo 20 im Rennbetrieb, sonst bis 6 Kilometer pro Stunde im Durchschnitt. CO2-Ausstoß Atemluft: etwa 60 Gramm pro Stunde im Gehbetrieb, Null Stickoxid, null Bremsenabrieb, minimaler Reifenabrieb und eine Prise Schuhsohlen. Platz bietet der Wagen für 10 Erwachsene oder 20 Kinder.