Von Martin Mezger

Stuttgart - Als käme die Oper aus dem CNN-Nachrichtenkanal: Bilder von IS-Schergen und ihren Opfern, von Luftangriffen und brennenden Gebäuden fluten diese „Salome“, diesen 110 Jahre alten Musiktheater-Schocker, den uns der russische Regisseur Kirill Serebrennikov so nahe bringt, dass er nahe geht. Das sind nicht einfach die aktualistisch aufgemotzten Sexuallockstoffe von einst, die seinerzeit Uropa aus dem Parkettsessel lupften, das ist vielmehr eine schneidende Brisanz, die nicht mehr mit wohligem Décadence-Gruseln abzutun ist. Den biblischen Femme-fatale- und Familienperversionsknaller von Richard Strauss und Oscar Wilde konfrontiert Serebrennikov krass mit dem Gräueln der Gegenwart: Islamismus und Islamophobie, dazu der eifernde Prophet Jochanaan als ambivalente Figur zwischen Hassprediger und messianischer Erwartung und die Gegenwelt der Comics verschlingenden Salome samt einer so übersättigten wie apokalyptisch gestimmten Wohlstandsdiktatur - dieses Gebräu ätzt die Wunden unserer heutigen Zivilisation, ihre Selbstgerechtigkeit wie ihre Konfrontation mit der Terror-Barbarei. Das ist Musiktheater von einer Verbindlichkeit, die einen nicht loslässt: keine geschmäcklerisch zu goutierende Geisterbahnfahrt auf schäumenden Klangwogen, sondern denkwürdigstes Realitäten-Spiel - ein Signaturstück der vergangenen Spielzeit im Stuttgarter Opernhaus. Zumal die musikalische Intensität keine Spur hinter der Inszenierung zurückbleibt: exzellent das Ensemble, allen voran Simone Schneider in der Titelrolle, elektrisierend das Dirigat des eingesprungenen Roland Kluttig (der ursprünglich vorgesehene Emilio Pomàrico hatte sich während der Proben verabschiedet).

Entstaubter „Fidelio“

Von Serebrennikovs „Salome“-Taktik kann sich jedenfalls das moderne Opern-Vergegenwärtigungstheater eine dicke Scheibe abschneiden. Versteht sich, dass das in Stuttgart regelmäßig geschieht. Dafür bürgt Hausherr Jossi Wieler, dem 2015/16 eine der stärksten Spielzeiten seiner bisherigen und noch bis 2018 währenden Intendanz gelang. Er selbst legte im bewährten Gespann mit Sergio Morabito zwei Mal Regiehand an: in Beethovens „Fidelio“ und Bellinis „Puritanern“. Ersteres eine nüchtern-aktuelle Entstaubung der Befreiungsoper, indem kurzerhand das Staatsgefängnis zum florierenden Ausbeutungs- und Start-up-Unternehmen samt Totalüberwachung erklärt wird. Da bleibt am Ende nichts von Freiheits- und Ehegattenpathos, die Durchdringung von privatem und politischem Glück tilgt nicht mehr die Traumata der Entfremdung. In den „Puritani“ loten Wieler und Morabito - an ihre „Norma“-Inszenierung anknüpfend - einen kollektiven Seelenkosmos zwischen titelgemäß puritanischer Zwanghaftigkeit und den Wonnen individueller Triebe und Lüste aus: einen Querstand zwischen dem religiösen Ingrimm des Aufstands (das Stück spielt zur Zeit von Cromwells puritanischer Revolution im England des 17. Jahrhunderts) und persönlichen Wunschträumen. Zwischen kollektivem Psychoterror und reaktionärer Seligkeit wird die arme Elvira zerrieben, und Ana Durlovski gibt ihr traumwandlerische Wahnsinnstöne der ergreifendsten Art in dieser Inszenierung, die so klug und stringent wie im „Fidelio“ aufklärendes Licht in die Dunkelzonen hinter dem schwachen Libretto wirft. Wieler und Morabito öffnen die Dimensionen von Bellinis wundersamer Musik, die Ekstasen der seelischen Ausnahmezustände offenbaren die einzigen Freiräume in der bilderstarken Kenntlichkeit einer ausweglosen Welt.

Hermetisches Realraumtraumspiel

Sie kehrt wieder im Madrider Künstlerpalast, in den Christoph Marthaler die Phantasmagorien, die Wunsch- und Alptraumsphären von „Hoffmanns Erzählungen“ gestopft hat - hermetisch, wie man es von dem Regisseur kennt, mit viel zwischentöniger und interaktiver Finesse, anspielungsreich und bis ins feinste Detail gewitzt. Koproduziert mit Madrid und dort am Teatro Real herausgekommen mag diese Inszenierung von Offenbachs Oper auf den Genius loci ihres herbeizitierten Schauplatzes, seines Flairs und Milieus geeicht sein. Doch auch in Stuttgart funktioniert Marthalers vergesellschaftetes Realraumtraumspiel der Verzauberung und der Desillusionierung ganz im Einklang mit Offenbachs genialer Musik; die Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling, eigentlich Offenbach-Experte, leider etwas blass dirigierte.

Mehr Klang, mehr Farbe investierte Cambreling in Philippe Boesmans’ Vertonung von Arthur Schnitzlers „Reigen“. Nur: So löblich es ist, zeitgenössische Opern nach der Uraufführung aus der drohenden Versenkung zu holen - Boesmans’ Opus von 1993 kommt über brave Illustration und bestenfalls witzelnde Klang-Kommentierung von Schnitzlers einst so skandalträchtiger Koitusszenen-Konstruktion nicht hinaus. Und Regisseurin Nicola Hümpel dekliniert ihre Post-Sex-Behauptung, deren allenfalls mechanisch kopulierende Lustlosigkeit man alsbald kapiert hat, eben auch nur im Stil gepflegter Langeweile durch. Ein Tief- neben lauter Höhepunkten.

Gleich eine ganze Höhepunkt-Parade: Calixto Bieito hat der „Fairy Queen“ von Henry Purcell sehr frei nach Shakespeares „Sommernachtstraum“ dermaßen geschlechterrollenwechselnd eingeheizt, dass das barocke Spektakel zu einem lustvoll wuchernden Assoziationsgarten der Lüste gedieh. Musikalisch kann man die Koproduktion von Oper und Schauspiel zwar vergessen, doch die aberwitzige szenische Promiskuität von Transgender-Lockungen, Spießersex, Gattinnenpersiflage, tierisch Menschlichem, braver Brunst und brachialer Perversion zählt zum Grandios-Klamaukigsten und Glucksklug-Komischsten, was jemals musiktheatralisch Laut gab. Muss man gesehen haben. Ab Dezember wieder im Schauspielhaus.

In einer kleinen Serie ziehen wir eine Bilanz der vergangenen Spielzeit 2015/16 an den wichtigsten Bühnen der Region. Zum Auftakt ist am 5. August der Beitrag zur Esslinger Landesbühne (WLB) erschienen.