Wanderer zwischen den Welten: Gabriel Prokofiev arbeitet als DJ in Londoner Nachtclubs und bringt den Besuchern dort zeitgenössische Musik näher. Foto: HLJones Quelle: Unbekannt

Stuttgart - Der Enkel des russischen Komponisten Sergej Prokofjew spricht wunderbares British English und ist auch sonst ein Londoner durch und durch. Für Katarzyna Kozielskas Ballett „Dark Glow“ im Programm „Verführung“ im Opernhaus schrieb der 41-jährige Komponist eine Auftragsmusik für Orchester und Elektronik. Neben Auftragswerken für große Orchester - so hat er zwei Konzerte für Turntables, also Plattenspieler, geschrieben - komponiert Prokofiev auch für sein eigenes Label „Nonclassical“, auf dem er zeitgenössische Musik und Remixes veröffentlicht.

Katarzyna Kozielska vom Stuttgarter Ballett war glücklich über die offene, kreative Zusammenarbeit mit Ihnen.

Prokofiev: Für ein symphonisches Werk oder ein Ballett mache ich gerne eine Menge Skizzen. Ich gebe sie den Choreografen und freue mich, wenn sie Musik auswählen, die für sie spannend ist. Der Dialog ist wichtig. Wenn ich für die Konzertbühne schreibe, muss ich immer alle Entscheidungen alleine treffen. Ehrlich gesagt: es ist sehr erfrischend, auch mal eine andere Meinung zu hören! Manchmal schockiert es mich geradezu, wenn ich ein großes Orchesterwerk schreibe, für 80 Musiker und 1000 Zuhörer, und ich habe bis zur ersten Aufführung mit niemandem darüber gesprochen! Natürlich hat man eine Vision als Künstler, aber in jedem einzelnen Stadium der künstlerischen Arbeit trifft man Entscheidungen, und da muss man offen sein.

Unter dem Label „Nonclassical“ veranstalten Sie in London Konzerte, bei denen Sie zeitgenössische klassische Musik auf eine andere Art und Weise präsentieren - wie laufen diese Abende ab?

Prokofiev : Sie entstanden aus meinem Frust darüber, dass ein junges Publikum eigentlich klassische Musik lieben könnte, aber nie dazu kommt, sie zu hören. Sie wachsen in einer Familie auf, die keine Klassik hört, sie gehen nicht in Konzerte, es gehört einfach nicht zu ihrem Leben. Selbst mit viel Werbung ist es schwer, die Leute in den Konzertsaal zu locken. Warum also nicht den Konzertsaal zu den Leuten bringen? Dorthin, wo sie sich wohlfühlen, in Bars, Nachtclubs etc. Was ich vor 13 Jahren begonnen habe, funktioniert so: Ich nehme ein Streichquartett oder ein Kammerensemble mit in einen Club und sie spielen dort klassische Musik. Die Leute dort sind glücklich, das zu hören! Natürlich muss man sie vorbereiten und ihnen sagen, worum es geht, aber sie gehen das Risiko gerne ein. Wir spielen drei oder vier Sätze, je 20 bis 30 Minuten lang. Zwischen den Sätzen mache ich den Discjockey, aber ich spiele nicht HipHop oder Rap, sondern Remixes oder zeitgenössische elektronische Musik.

Wenn man im Konzertsaal sitzt und sich die klugen Worte im Programmheft durchliest, dann wird das zu einer überwältigenden, einschüchternden Erfahrung. Aber wenn man diese Musik in einer entspannteren Umgebung spielt, dann handelt sie von der modernen Zeit, sie bleibt keine akademische Übung. Es ist Zeit, das Konzerterlebnis zu modernisieren!

Gibt es denn einen Punkt, wo sich die zeitgenössische klassische Musik und Dance Music treffen?

Prokofiev: Ich ziehe gerne diese Parallele: Wenn man 100, 200 Jahre zurückgeht, dann verwendeten viele Komponisten gerne die Tanzformen ihrer Zeit, Menuett und Walzer zum Beispiel. Die klassische Musik hatte damals einen direkten Bezug zur populären Kultur, den haben wir verloren. Heute kann man der Dance Music nicht mehr entkommen, sie ist überall, ein Teil der Kultur. Die klassische Musik sollte darauf antworten! Es gibt in der aktuellen Dance Music spannende Entwicklungen beim Rhythmus, ich würde das gerne aufnehmen und weiterentwickeln, diese Qualität kann sehr aufregend sein. Ich liebe das Orchester und das menschliche Element, aber es ist interessant, die Elektronik mit einzubeziehen. In meinem Stück fürs Stuttgarter Ballett versetze ich die beiden fast in einen Kampf gegeneinander, das Orchester wird quasi von einem mächtigen elektronischen Klang überwältigt. Wichtig ist, dass man wirklich etwas davon versteht, wenn man moderne Stile aus der Dance- oder Club-Szene in die zeitgenössische Klassik integrieren will, wir müssen sie respektieren.

Sie haben also eine Art Doppelleben geführt, als Sie jung waren?

Prokofiev: Genau! Als Teenager spielte ich in einer Band. An der Universität merkte ich, wie sehr ich die klassische Musik liebe und schlug diesen Weg ein. Nach meinem Abschluss war ich frustriert über die isolierte Stellung der modernen klassischen Musik, mir ist die kommunikative Kraft der Musik sehr wichtig. Also ging ich zurück in die Band, spielte und produzierte Musik. Was ich schrieb, hielt ich für normale Dance Music, aber die Leute meinten, es klinge ein wenig merkwürdig - scheinbar war es doch experimenteller, als ich dachte. In der zeitgenössischen Klassik aber erwartet das Publikum genau diese Abenteuer, das zog mich dann natürlich zurück. Heute sind beide Seiten ein Teil von mir, manchmal klingt zum Beispiel meine Percussion nach elektronischer Dance Music.

Sie haben ein Auftragswerk für die St. Petersburger Philharmoniker geschrieben, wie wurden Sie in Russland empfangen? Wie schlimm ist es, ständig als „der Enkel von“ eingeführt zu werden, wenn man ein eigenständiger Komponist ist?

Prokofiev: Ich bin mir meiner Herkunft sehr bewusst, vielleicht sogar zu stark. Als ich jung war, verzögerte das meine Hinwendung zur klassischen Musik. Zum Glück aber werde ich in Großbritannien als eigenständiger Künstler akzeptiert. Mein Stil ist einfach ganz anders, man vergleicht nicht zu stark. In Russland war ich fast schockiert, weil ich mit einer Berühmtheit behandelt wurde, die ich eigentlich nicht hatte. Dort hat mein Großvater einen ganz anderen Status, er ist eine große historische Figur. Wäre ich da aufgewachsen, wäre ich jetzt wahrscheinlich kein Komponist. Aber ich habe großartige Erfahrungen in Russland gemacht, sie mochten meine Musik, ich habe auch in einem Club Platten aufgelegt, es war unglaublich.

Haben Sie je daran gedacht, die „Romeo und Julia“-Partitur Ihres Großvaters für moderne Choreografen zu remixen?

Prokofiev: Das werde ich oft gefragt. Für mich ist das ein Gebiet, vor dem ich mich sehr zurückhalte. Ich habe Remixes von anderen klassischen Werken gemacht, aber ich arbeite lieber mit zeitgenössischer Musik. Wenn ich anfinge, die Musik meines Großvaters zu bearbeiten, dann würde das meiner Eigenständigkeit als Komponist zuwiderlaufen - ich wäre der Enkel, der den Großvater neu aufmischt. Es macht mich nervös, überhaupt daran zu denken! Vielleicht Tschaikowsky… (lacht)

Sie sind Brite, aber von russischer Abstammung - gibt es heute noch eine Art nationales Erbe für Komponisten, gibt es „die britische Musik“?

Prokofiev: Der Herkunft und meiner sozialen Prägung nach bin ich Brite, oder ich würde sogar sagen: Ich bin Londoner, was in der gegenwärtigen Brexit-Debatte etwas anderes ist, London hat fast schon eine andere Kultur. Als Komponist fühle ich mich sehr stark der russischen Musik verbunden, natürlich durch die Musik meines Großvaters, aber ich liebe auch Schostakowitsch, Strawinsky, Schnittke, Gubaidulina. Ich denke schon, dass meine Musik etwas Russisches in sich hat.

Das Interview führte Angela Reinhardt.

Das Stuttgarter Ballett zeigt „Dark Glow“ noch einmal am 4. und 7. März. Mehr Infos unter www.stuttgarter-ballett.de