Einsamkeit, Langeweile und körperliche Gebrechen treiben viele Senioren in die Alkoholabhängigkeit. Symbol Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Sebastian Steegmüller

Stuttgart - Alle sieben Minuten stirbt nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) bundesweit ein Mensch an den direkten oder indirekten Folgen seines Alkoholkonsums. Im Klinikum Stuttgart ist die Zahl der Betrunkenen, die stationär behandelt werden, zwar seit Jahren rückläufig, dennoch sind sie an der Tagesordnung. Auffällig: Die Patienten werden immer älter.

Benedikt Bloching, der leitende Oberart des Zentrums für seelische Gesundheit des Klinikums Stuttgart in Bad Cannstatt, wird eine Patientin wohl nicht so schnell vergessen: Eine 87 Jahre alte Frau wurde mit einer schweren Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gebracht - mit 3,7 Promille. Ein Wert, bei dem manch anderer längst im Koma liegen würde. „Für einen Ungeübten kann es schon ab zwei Promille lebensgefährlich werden“, sagt der Mediziner.

Die alte Dame, die bis zu ihrer Einlieferung drei Flaschen Wein am Tag getrunken hat, ist kein Einzelfall. Zwei Drittel der Senioren, die wegen ihrer Alkoholsucht behandelt werden müssen, nehmen die Krankheit schon mit in die Rente, ein Drittel fängt jedoch erst im Ruhestand mit der Trinkerei an. „Oft fühlen sie sich nicht gebraucht, sind einsam und leiden an Schlaflosigkeit.“ Körperliche Handicaps erschweren den Alltag und die Freizeitgestaltung, hinzu kommt, dass die sozialen Kontakte aus dem Berufsalltag wegfallen würden und der Freundeskreis oder gar der Partner wegstirbt. „Früher haben wir nicht auf die Senioren geschaut, doch mittlerweile ist die Gruppe auffällig.“

Gleiches gilt auch für Minderjährige: Während die Zahl der erwachsenen Patienten, die aufgrund ihrer Alkoholprobleme stationär am Klinikum behandelt werden müssen, sich seit 2012 auf 757 fast halbiert hat, ist sie bei Kindern und Jugendlichen in etwa gleich geblieben. Im vergangenen Jahr wurden 118 Fälle registriert. Bloching bezeichnet diese Stagnation als „besorgniserregend“. Durch Alkohol könne die Entwicklung eines Heranwachsenden behindert, die Pubertät verzögert werden. „Nervenzellen müssen sich erst noch verbinden.“ Auch die Reifung des Gehirn sei erst mit 25 Jahren abgeschlossen. Zudem könne die Leber den Alkohol nur sehr langsam abbauen, bereits geringe Mengen führen zu schweren Schädigungen.

Mädchen „holen auf“

Generell neigen Jungen eher zum sogenannten „Komasaufen“, aber die Mädchen holen auf. 2015 waren rund 54 Prozent der minderjährigen Patienten männlich, in den drei Jahren zuvor jeweils noch circa 60 Prozent. Dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern verstärkt sich mit zunehmendem Alter: Ab dem 18. Lebensjahr trinkt etwa die Hälfte der Männer regelmäßig mehr als fünf Gläser Alkohol bei einer Gelegenheit, während dies nur etwa ein Drittel der Frauen tun. Unter allen Erwachsenen ist sogar nur jeder vierte Patient weiblich. Doch auch hier gibt Risikogruppen, weiß Bloching: „Frauen, die zwischen 45 und 65 Jahre alt sind und einen hohen sozioökonomischen Status haben.“ Sprich über entsprechende Bildung verfügen, beruflich erfolgreich und in entsprechenden Positionen sind. „Sie holen in der Statistik in den vergangenen Jahren im negativen Sinne deutlich auf“, so der Oberarzt, der vor zu exzessivem Genuss warnt.

Bloching weist darauf hin, dass Alkohol das schlimmste und am weitesten verbreitete Suchtmittel ist. „Ein Gift für den ganzen Körper.“ Er könne die Risikobereitschaft erhöhen, Aggressionen verursachen und langfristig die Persönlichkeitsstruktur verändern. Regelmäßiger Konsum beeinträchtigt zudem die Muskelleistung, schädigt Nerven und Organe, neben der Leber etwa die Bauchspeicheldrüse, und begünstigt die Entstehung von Übergewicht sowie psychische Störungen und Krebskrankheiten. Auch das Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte werde erhöht. Auch Hirnblutungen werden laut des Mediziners begünstigt. „Da reicht manchmal schon ein kleiner Sturz, der bei einem gesunden Menschen nur eine Beule verursacht hätte.“

Übergang zur Sucht ist fließend

Die Weltgesundheitsorganisation WHO sieht derzeit 20 Gramm Alkohol (ein Bier oder ein Glas Wein) pro Tag für gesunde Männer und die halbe Menge für gesunde Frauen als tolerierbar an. „Allerdings ist das keine Empfehlung, jeden Tag so viel zu trinken“, sagt der Experte. Doch was sind erste Anzeichen, dass der Konsum in die falsche Richtung läuft? Der Übergang vom Alkoholgenuss zur Sucht ist fließend. Anzeichen können Schlafstörungen, innere Unruhe oder depressive Verstimmungen sein. „Wer abends zu Hause unter Strom ist und ohne Alkohol nicht abschalten sowie ohne sein Glas Bier oder das Viertele Wein nicht einschlafen kann, der sollte sich Gedanken machen“, so Bloching.

Definitiv drüber war eine Patientin, Ende 40, die im Frühjahr 2014 in das Zentrum für seelische Gesundheit gebracht wurde. „Sie wirkte schläfrig, brach plötzlich auf einem Gang zusammen.“ Mit sechs Promille, wie eine Analyse des Blutes später ergab. „Sie wies den mir bislang bekannten höchsten Blutalkoholwert einer Frau im Klinikum Stuttgart auf. Mit solch einem Wert überlebt man normalerweise nicht.“ Weil die Ärzte des Klinikums Stuttgart sofort zur Stelle waren, sie reanimierten und auf die Intensivstation brachten, hatte sie jedoch Glück im Unglück.