Von Verena Großkreutz

Ludwigsburg - Laut Ovid soll der Gesang des Orpheus ja selbst die Eumeniden, die furchtbaren Rachegöttinnen, zum Weinen gebracht haben. Wie mag die Stimme des Dichters und Sängers, der unter den vielen Gestalten der griechischen Mythologie zum absoluten Liebling der Künste avancierte, wohl geklungen haben? Der junge argentinische Balladensänger Nahuel Pennisi, von Geburt an blind, trifft mit seiner Stimme jedenfalls direkt ins Herz: mal sanft, mal durchdringend sind die vibrationsfreien Töne, seine Stimmlage ist androgyn. Expressiv reißt er die Töne zu Schluchzern in die Höhe. Er begleitet sich zuweilen selbst auf der Gitarre, die er auf dem Schoß liegen hat.

Pennisi singt die Titelpartie im konzertanten Opern-Pasticcio „Orfeo, der Schamane“, dem aktuellen Projekt von Christina Pluhar und ihrem auf historischem Instrumentarium spielenden Ensemble L’Arpeggiata, das jetzt als deutsche Erstaufführung bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen im Forum zu hören war.

Pluhar hat dafür barocke Originale bearbeitet, mit Eigenkompositionen und Improvisationen gemischt. Sie ist dafür bekannt, Barock mit Jazz und Folkloristischem zu würzen - diesmal aus Venezuela und Mexiko, weswegen die alten Instrumente durch eine lateinamerikanische Perkussionsgruppe ergänzt werden. Der sinnliche und fein gesponnene Abend wird dadurch melodisch und rhythmisch verfeinert. Zumal das zugrundeliegende Libretto den griechischen Mythos mit Sagen Lateinamerikas kreuzt. So steht Orfeo auf seiner Reise in die Unterwelt der aztekische Schutzgeist Nahual zur Seite, der ihm in sanft beschwörenden Melodien die richtige Richtung weist, derweil Orfeo sich schamanenhaft in Trance singt.

Wie immer in Pluhar-Projekten bleibt die Musik gut 90 Minuten im Fluss, ohne Pause. Sanft gleiten die Übergänge von Song zu Song. Orfeo klagt und weint und schluchzt, zeitlos, in Ewigkeit. Seine Trauer und sein Liebesleid sind einfach nicht zu stillen.

„Der Mond verdeckt die Sonne, um im Dunkeln zu weinen“, singt er überm zarten Klangteppich aus Theorben- und Gambenzupfen und Klavierakkorden, nachdem Euridice durch einen Schlangenbiss hinweggerafft wurde. Und er klagt weiter, als er sie im Hades zum zweiten Mal verliert, weil er das Verbot brach, sich nicht nach ihr umzuschauen. Dabei war er so nah dran, durch seine unendliche Liebe sogar den Tod zu überwinden. Und auch Bienenzüchter Aristeo (Tenor Emiliano Gonzalez-Toro) klagt: Seine Bienen erstarrten in der Luft und zerfielen zu Staub. So rächten sich die Schwestern Euridices an ihm, weil er die Tragödie auslöste. Er stellte der Schönen nach, den Schlangenbiss erlitt sie auf der Flucht.

Wie die Farben von Theorbe, Gambe, Harfe, Hackbrett, Zink fügen sich auch die Verse des kolumbianischen Dichters Hugo Chaparro Valderrama ein in die poetische Atmosphäre. „Träumt der Mensch, oder ist er selbst nur ein Traum?“, fragt Orfeo, während Nahual (Mezzosopranistin Benedetta Mazzucato) mit sanfter Stimme verkündet, dies Schiff bringe ihn in eine andere Welt.

Manchmal gibt’s hitzige Tänze. Besonders mitreißend in „Pajarillo“, wenn Euridice in rhythmischem Sprechgesang ihrer Lebensfreude Ausdruck verleiht und sie von Leo Rondons Cuatro-Gitarre und den zischenden, prasselnden Maracas des Rumba-Rassel-Virtuosen Rafael Mejidas befeuert wird. „Es tanzt die Nacht eine Vollmondsamba auf der Straße“, heißt es ein anderes Mal. Das Publikum aber ist hellwach und am Ende hellauf begeistert.