Von Verena Großkreutz

Stuttgart - Interpretation, Unvermögen oder körperliche Müdigkeit? Schwer zu sagen, aber es darf angenommen werden, dass ein Star-Bariton vom Format eines Christian Gerhaher die akustischen Verhältnisse eines Beethovensaals soweit einschätzen kann, dass seine wohlklingende Stimme immer hörbar bleibt. In der Bass-Solo-Kantate „Ich habe genug“ von Johann Sebastian Bach, die das Musikfest-Konzert des Gustav Mahler Jugendorchesters (GMJO) in der Liederhalle eröffnete, war das aber nicht immer der Fall. In der Arie „Schlummert ein, ihr matten Augen“ sackte die Stimme des charismatischen Bayern gar so weit ab, dass man spätestens beim besungenen Abschied von der Welt die eigenen trägen Augenlider aufreißen und auf die Bühne richten musste, um nachzuschauen, ob der Sänger noch anwesend war. Und das in Reihe neun. Auch die übrigen Nummern, selbst die euphorische Arie „Ich freue mich auf meinen Tod“, blieben als musikalisches Ereignis belanglos, weil Gerhahers sanfter Gesang zu energielos geriet. Die sehnsüchtige Jenseitsmystik dieser Bach-Kantate passte immerhin trefflich zum folgenden Werk, für das die kleine Bach-Besetzung des GMJO, das Gerhaher wacker und mit deutlicher Seufzer-Artikulation begleitet hatte, zu einem Riesenorchester anwuchs, das die Bühne bis auf den letzten Millimeter ausfüllte.

„I’ mag dö Neunte gar nöt anfangen, i’ trau mi’ nöt, denn“, soll Anton Bruckner, ehrfurchtsvoll ins Schriftdeutsche wechselnd, geäußert haben, „auch Beethoven machte mit der Neunten den Abschluss seines Lebens“. Wer nach Beethoven eine Neunte Sinfonie schrieb, kam an ihrer ungeheuren symbolischen Aufladung nicht vorbei. Die meisten Komponisten bekamen ihre Neunte immerhin noch fertig - auch Mahler, Schubert, Dvorák. Bruckner nicht. Er hinterließ sie als klangmächtigen Torso, als er 1896 starb.

Vielleicht ist das fehlende Finale der Grund, weshalb Dirigenten zuweilen die vollendeten drei Sätze noch klangmächtiger gestalten, als sie es ohnehin schon sind. Vielleicht wollen sie damit die fehlende, aber vermutete Schlussapotheose kompensieren. Was der Dirigent Philippe Jordan dem GMJO abverlangte, war streckenweise derart tumultuös, dass man sich ernsthaft Sorgen um die Gehörnerven der jungen Leute auf der Bühne, aber auch um jene der Zuhörer in den vorderen Reihen machen musste.

Selbstverständlich beschwört Bruckner in seiner Neunten in jedem Satz die Apokalypse: Den Kopfsatz erschüttern katastrophische Eruptionen, das Scherzo durchziehen Hämmern und unerbittliches, maschinenhaftes Stampfen, im Adagio führen die monumentalen Steigerungen in den albtraumhaften Zusammenbruch. Aber die Wege dorthin sind oft lang, sie versöhnen die extremen Kontraste, die Bruckner zwischen bombastischen Klangballungen und Musik von überirdischer Schönheit wagt. Sie verlangen minutiös aufgebaute Lautstärkenverhältnisse, gelegentliches Durchatmen, höchstmögliche Transparenz im Orchesterklang. Die Spannungskurven bleiben sonst von vornherein schlapp, und plötzliche Totenstillen wirken wie ein Vakuum. Jordan dirigierte vorwiegend Zustände. Für die Wege dorthin hatte er weder Augen noch Ideen.

Das GMJO folgte Jordans strengen Fingerzeigen und nach oben kurbelnden Bewegungen, kurz: seinem permanenten Druck diszipliniert, hoch konzentriert, mit diversen beeindruckenden solistischen Einlagen. Es sind junge Musiker auf dem Weg zur Professionalität. Sie wurden von einer gestrengen Jury ausgesucht. Sie können viel, sie brauchen nur den richtigen Dirigenten. Wer sich davon einen Eindruck machen will, der höre einmal hinein in den Mitschnitt eines Konzerts bei den Londoner Proms 2010: Da spielte dasselbe Orchester die gleiche Sinfonie in der Leitung von Herbert Blomstedt.

Heute beim Musikfest in Stuttgart

10 Uhr, Hospitalhof: Präsentation des neuen Barockorchesters der Bachakademie.

13 Uhr, Stiftskirche: Johann Sebastian Bach: Kantaten „Tue Rechnung! Donnerwort“ (BWV 168), „Was frag ich nach der Welt“ (BWV 94) und „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut“ (BWV 113). Dorothee Mields, Sopran. Terry Wey, Kontratenor. Sebastian Kohlhepp, Tenor. Andreas Wolf, Bass. Gaechinger Cantorey, Leitung: Hans-Christoph Rademann.

15 Uhr, Hospitalhof: Musikfest-Café. Bachakademie-Intendant Gernot Rehrl im Gespräch mit Thomas Rosenfeld, Vorstandsmitglied der Baden-Württembergischen Bank.

19 Uhr, L-Bank Rotunde (Friedrichstraße 24, Stuttgart): Vom Umgang mit Reichtum. Gesprächsrunde mit Anselm Bilgri (ehemaliger Benediktinermönch), Bernd Riexinger (Vorsitzender der Partei „Die Linke“), Renata Jungo Brüngger (Vorstandsmitglied der Daimler AG), Christiane Lange (Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart) und Rosely Schweizer (Unternehmerin und CDU-Politikerin). Moderation: Wieland Backes.