Ballett kann auch Angst machen: Marco Goeckes Uraufführung „Lucid Dream“, hier mit Roman Novitzky und Alexander McGowan. Foto: Stuttgarter Ballett Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - Das Stuttgarter Ballett pflegt sein Repertoire wie kaum eine andere deutsche Kompanie - nicht nur in den großen Handlungsballetten, sondern gerade auch in den kurzen Werken, den Einaktern, symphonischen und modernen Balletten. Kein Wunder, stehen hier doch praktisch alle Stile der vergangenen 30, 40 Jahre griffbereit im Regal, meist passgenau verfertigt von den diversen Größen der jüngeren Ballettgeschichte, die hier gearbeitet haben. Und so tauchte auch die 20. Spielzeit von Intendant Reid Anderson wieder tief ins Archiv, förderte Nostalgisches zutage wie John Crankos „Pineapple Poll“, beliebte Dauerbrenner wie die „Siebte Sinfonie“ von Uwe Scholz oder eine noch immer geltende Moderne wie Glen Tetleys „Arena“ und Jirí Kyliáns „Vergessenes Land“. Zu oft war es das Naheliegende, zu selten die verborgenen Schätze, denn gerade bei Kylián und Tetley gäbe es einiges zu entdecken, von John Crankos vergessenen Werken wagt man kaum mehr zu träumen. Getanzt wurde gewohnt souverän und stilbewusst, wenn nicht gleich bei der Premiere, so spätestens nach ein paar Folgevorstellungen. Das galt auch für die „zugekauften“ Werke, für die kühle Eleganz Hans van Manens oder die rasante Kantigkeit William Forsythes. Sein Klassiker „the second detail“ war einer der Höhepunkte der Spielzeit und schreit danach, von einem der großen Forsythe-Abendfüller wie „Impressing the Czar“ getoppt zu werden.

Eigene Choreografen

Anstatt dem teuren Alexei-Ratmansky-Wahn der Kollegen zu verfallen, setzt Intendant Anderson weiter auf seine eigenen Choreografen. Dazu gehören ein langer Atem und ein Publikum, das diesen Weg mit Geduld und Neugier mitgeht, auch wenn er einmal in Stocken gerät. Denn ob Hauschoreograf Demis Volpi sich weiterentwickeln wird, steht derzeit in Frage - zu eklatant erscheint der Unterschied, wenn man die choreografische Substanz seiner neuen „Salome“ mit dem kleinen, fünf Jahre alten Ausschnitt vergleicht, der bei der Ballettfestwoche im Rückblicksabend „Skizzen“ zu sehen war. Volpi hat sich vollkommen auf das Erzählen in Bildern oder Tableaus kapriziert; seine eigentliche Aufgabe, das Erfinden von Bewegungen, vergisst er darüber vollkommen.

Das kann Marco Goecke, dem anderen Hauschoreografen, nicht passieren: Drei unterschiedliche Stücke hat er in der ersten Hälfte des Jahres 2016 in Stuttgart auf die Bühne gebracht. Das Publikum wird seines außergewöhnlichen Stils nicht überdrüssig, ganz im Gegenteil. „Lucid Dream“ zeigte im Opernhaus den stockenden, düsteren Goecke, hin- und hergerissen zwischen Angstgroteske und nächtlicher Sehnsucht. Der andeutungsvoll erzählende „Nijinski“ stellte bei den Kollegen von Gauthier Dance sowohl die wandelbaren Tänzer im Theaterhaus heraus wie auch die schlaue, wenig visionäre Methode Eric Gauthiers, sich weiterhin auf die Choreografen und die Ästhetik zu verlassen, die sein ehemaliger Chef Reid Anderson entdeckt hat. Als einzig plausible Ausrede des Ballettintendanten, die „Nijinski“-Idee seines Hauschoreografen so einfach aus der Hand gegeben zu haben, könnte man die eventuelle Bemühung um John Neumeiers grandioses Gegenstück gelten lassen.

Verblüffende Bildeffekte

„A Spell on You“ mag, obwohl „nur“ für die Cranko-Schule entstanden, der heimliche Favorit unter den drei Goecke-Stücken sein, weil sein typisches Idiom hier in einer überreichen Sinnlichkeit sprudelt und mit einer Vielfalt verblüfft, die so ziemlich jeden anderen Bewegungserfinder der Gegenwart in den Schatten stellt. Auch nach 60 Stücken kann der gebürtige Wuppertaler immer noch überraschen. Stetig aufwärts geht es auch bei Katarzyna Kozielska, der effektvolle Charakter-Solos wie „Firebreather“ so leicht von der Hand fließen. Mit „Neurons“ bewies sie im März im Schauspielhaus, dass ihr klassisch basiertes Vokabular sich zunehmend erweitert, dass auch ihr verblüffende Bildeffekte einfallen, dass sie die Virtuosität der Stuttgarter Tänzer ausreizen kann. Und die ist trotz erheblicher Verluste bei den männlichen Solisten in den vergangenen Jahren nach wie vor erstaunlich. Besonders hervorgetan hat sich Pablo von Sternenfels, Mexikaner mit deutschen Wurzeln, der sein Potenzial als stürmischer, leidenschaftlicher Darsteller ausspielte. Und wie immer in Reid Andersons entdeckungsreicher Intendanz stehen schon wieder mehrere Herren und Damen in den Startlöchern. Die Personaldecke wird bei den ersten Solisten immer dünner, aber die kaum nachlassende Qualität der Kompanie zeigte sich mit den drei großartigen Cranko-Aufführungen in der Ballettfestwoche, mit aufregenden Debüts beim „Skizzen“-Abend, mit brillanten Auftritten bei der abschließenden Gala. Bei der Festwoche zum Jubiläum seines Chefs war auch der designierte Anderson-Nachfolger Tamas Detrich ständig im Einsatz, der Übergang in zwei Jahren dürfte also fließend vonstattengehen. Schöne Aussichten, wenn man derzeit zum Bayerischen Staatsballett schaut, wo nötige Änderungen mit unnötigen Brüskierungen einhergehen.